An einen toten Freund
An Dich,
heute schreibe ich an Dich. Zum letzten Mal.
Heute hast Du Dich von dieser Welt verabschiedet.
Gestern Abend um 21 Uhr - warst Du plötzlich im Raum.
Ganz nah. So gegenwärtig. Es kam großes Weh auf.
Aber Du bist nicht gestern gegangen.
Heute bist Du gegangen.
Weißt Du noch? 1991.
Der kleine Verlag in Andechs?
Der Verleger sagte über dich:
Da ist einer. Der weiß etwas. Mit dem möchte ich
Bücher herausgeben.
Oh, lass mich in Ruhe damit.
Der Verlag bat mich zu helfen: Dieser Mann ist nicht kalkulierbar, nicht berechenbar.
Immer weicht er aus. Immer wieder platzen die Termine.
Beim fünften Termin warst Du da.
Diesen Idioten will ich gar nicht kennen lernen, sagte ich.
Auch keine Bücher mit ihm machen. Nur mal kurz begrüßen. Schauen, wie so einer aussieht.
Als ich den Raum betrat, standest Du von Deinem Stuhl auf. Reichtest mir die Hand.
Als ich in Dein Gesicht sah, wankte der Boden unter mir.
Es war mir peinlich, so peinlich.
Mit einer kurzen Entschuldigung drehte ich mich ab, eilte aus dem Raum.
Sank im Zimmer nebenan auf einen Stuhl nieder.
Nur nicht ohnmächtig werden. Bin ja lächerlich.
Das gibt es nicht. Das gibt es nicht.
Ich kenne ihn. Und bin ihm doch nie begegnet.
Dachte ich.
Nach einer Weile hatte ich mich einigermaßen gefangen,
nahm Platz auf den Stuhl Dir gegenüber.
Stunden blieben wir sitzen,
sprachen, sprachen, sprachen.
Alles, was Du sagtest, war mir geläufig.
Aber ich hatte es noch von keinem anderen lebenden Menschen gehört.
Der Verlag verpflichtete mich, mit Dir zwei Bücher zu veröffentlichen.
Feuer – Geheimnis der Geburten.
Wasser – Ein Gast der Erde.
Was für ein Unterfangen. Du hattest nicht das geringste Interesse daran.
Und außerdem:
Ich? Keine Ahnung von Physik. Woher denn auch?
Levitationsphysik, was ist das denn?
Ich bat Dich, mir ein Bild zu malen.
Damit ich eine Vorstellung davon bekommen kann.
Du schicktest mir kurz danach eine Zeichnung.
Darüber stand ein fremdes Wort:
Gravitationsmetamorphose.
Wenige Tage später gingen wir nebeneinander über ein Schneefeld.
Es war ein langgestrecktes weites Feld, ich weiß es noch
so genau.
Du bliebst plötzlich stehen.
Du wirst mein Werk fortführen.
Ich schaute Dich fassungslos an. Fragte, ob Du verrückt seiest?
Dein Sohn wird es tun, er ist der Physiker.
Du schautest mich ganz seltsam an.
Das wirst Du eines Tages verstehen, sagtest Du.
Ich habe alles für Dich gemacht, sagtest Du.
Aber wieso denn? Wir kennen uns gerade mal eine Woche. Und außerdem ...
ich habe nicht eine Stunde Physik in der Schule gehabt.
Umso besser, dann musst Du nicht so viel umlernen,
und es ist für mich leichter, Dir etwas zu erklären.
Ich ließ nicht locker. Wiederholte.
Und Dein Sohn?
Er wird Dich begleiten.
Wie sehr sich Deine Worte erfüllen sollten, auf eine ganz andere Weise,
das ahnte ich nicht.
Deine Zeichnung und das fremde Wort
wurden der Grundstein eines Menschenweges,
wer hätte das gedacht.
Stets ein Tonband in der Hand begleitete ich Dich.
Auf Deinen Reisen, zu Deinen Vorträgen.
Wir fuhren in die letzten Winkel des Landes, kein Ort schien Dir
unwichtig genug, kein Ort klein oder verrucht genug.
Du sprachst über die großen Dinge, die Dich bewegten.
Die Menschen waren fassungslos. Nie hatten sie solches vorher gehört.
100000 km sind wir durch Europa gefahren.
Gelernt habe ich von Dir:
Die Bedeutung des Menschen.
Warum das Herz keine Pumpe sein kann.
Über die Entelechie des Aristoteles.
Die Notwendigkeit der Verwandlung der Erde.
Über Keplers Weltenbau.
Über die Lenkbarkeit der Strukturen.
Über die Veränderbarkeit der Dichtegrade.
Die Geometrie der geschlossenen und der offenen Systeme.
Über die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit.
Die Experimente von Derjagin.
Den Zusammenhang zwischen Radius und Geschwindigkeit.
Gehört habe ich von Dir:
Von den Verträgen von Amiens.
Von den großen Konzilen von Nicäa und Konstantinopel ...
Von Varus Zug gegen die Externsteine.
Von der Physik des christlichen Einweihungsweges.
Du zeigtest mir:
Colmar.
Quedlingburg und das Geheimnis seines Domes.
Die unfassbaren Externsteine.
Schleswig mit den Rosenstöckchen vor allen Haustüren.
Goslar, der Sitz der Deutsch-Ritter.
Weimar, die zwei großen Männer in Stein,
Schillers Haus, sein Schreibtisch, die engen Wände, die schmalen Aufgänge,
der kurze Weg von seinem Schreibtisch zu seinem Krankenlager –
das Gartenhaus, in dem Goethe seine Gäste empfing
und der Herzogin heimlich Zeichen gab,
der Konferenzraum der Anna Amalia.
Du gingst mit mir Stunde um Stunde durch die
Lüneburger Heide,
der Mensch gibt über seine Füße seine Gedanken weiter an die Erde,
sagtest Du.
Ich lernte, was ich in den Schulen dieser Welt nicht gelernt hatte.
Ich lernte die Wurzeln von Europa kennen.
Durch Dich begriff ich die Architektur des Weltenbaus.
Wir wussten, wozu wir lebten,
wir wussten, wohin wir wollten,
wir wussten, wofür wir kämpften.
Einmal hast Du einen Wutanfall bekommen. Über unser Land.
Und hast geschrien, und ich habe mitgeschrieben.
Du schriest.
... da reden und reden sie von Deutschland und verbinden damit Wirtschaft, Geld, Organisation.
Aber ich sage Dir:
Eine geistige Aufgabe in die Wirtschaft zu legen - das ist der Irrsinn.
Das ist eine ungeheuerliche Verkürzung des Menschen Sinn.
Du schriest.
Stell Dir nur vor, die Völker wären nicht wegen des Geldes gekommen, sondern um zu lernen.
Stell Dir nur einmal vor, die Deutschen hätten nicht geschlafen,
sie hätten das Wissen des Herzens von Mitteleuropa freigemacht ...
dann wären die Völker mit diesem Wissen in ihre Länder zurückgekehrt ...
um es den Menschen ihrer Heimat mitzuteilen ...
dann wäre der Aufenthalt in Deutschland ein Segen geworden.
Stell Dir einmal vor, die deutschen Tugenden: Fleiß, Ordnung, Disziplin ...
die wären für die richtigen Ziele eingesetzt worden ... .
Du schriest.
Der Deutsche ohne Geist ist nur tüchtig, sagte Fichte. Und das ist furchtbar.
Und Preußen – ist steckengeblieben in der Pflicht. Pflicht – das ist gefrorene Spiritualität.
Und der Deutsche durchschaut nichts.
Schlimmer noch, er macht mit, redet nach, was man ihm erzählt.
Wäre ja alles nicht so schlimm, wenn sie keine Aufgaben gehabt hätten, diese Deutschen.
Die Deutschen hatten eine Weltenaufgabe, und die verschlafen sie.
Und den Auftrag, den er gehabt hätte, den hat er abgegeben.
Man muss den Menschen raus haben. Damit es nur noch Hüllen gibt, die funktionieren.
Er versäumt, die richtigen Fragen zu stellen ... .
Ich sage Dir, der Mensch, der seinen Auftrag ernst nimmt, hat in dieser Gesellschaft keinen Platz,
es sei denn als Barkeeper oder Portier, aber an keiner wichtigen Stelle.
Es wird eine Zeit kommen, wo der Weg der Starken in den Tod führt.
Du schriest.
Des Deutschen Vaterland ... weißt Du, was das ist? Der Kosmos.
Deutsch, das ist nichts Nationales, nichts Politisches, Deutschland ist etwas Geistiges.
Und der Dichter des Deutschlandlieds hat das gewusst,
Deutschland hatte einen Auftrag. Es war der Auftrag von Mitteleuropa:
"Menschwerden". Den hat er versäumt.
Deutsch, das ist ein Seelenproblem und es ist ein Geistproblem.
Nichts Politisches, nichts Nationales. Das wusste man.
Das Deutschlandlied – der Mann, der es gedichtet hat, ging niemals vom Nationalen aus.
Er meinte den Auftrag der Deutschen.
Er wusste, dass es sich hier um Seelenkräfte handelt, und nicht um Politik.
Drei Dinge stehen am Anfang der deutschen Sprache:
die Merseburger Zaubersprüche, die Bibelübersetzung von Ulfila, das Wessobrunner Gebet.
Es gibt eine ungeheure Spannweite von den Merseburger Zaubersprüchen zu Leuna.
In diesen Städten kannst Du sehen, wie aus hohem Geist Dreck und Schrott geworden ist.
Merseburg ist ein Beispiel.
Bamberg ein anderes, ein Ort der sächsischen, staufischen und salischen Kaiser.
Die staufischen, salischen und sächsischen Regenten haben mit den Regenten von heute nicht viel zu tun.
Sie waren Gewählte, Erste unter Gleichen.
Sie waren Gralsritter und von der Idee der freien Christianisierung tief bewegt.
Sie trugen den eigentlichen Geist des Mittelalters mit dem noch vom Gral berührten Christusimpuls
als Reichsidee in sich.
Die Deutschen in der Welt so unansehnlich zu machen, weißt Du,
die Deutschen so schlecht zu machen, dass kein Mensch mehr auf die Idee kommt,
dass sie eigentlich für die Kultur des Abendlandes verantwortlich gewesen wären, das war Plan.
So konnte man es verhindern.
Du schriest.
Und heute? in Sattheit und Selbstzufriedenheit versinken heilige Gedanken.
In riesigen Töpfen verschwindet alles Wesentliche.
Der Deutsche musste weg. Der Deutsche musste weg, bevor er seinen Auftrag erkennen würde ....
Es ist gelungen.
Früher haben sie den Leib geopfert, um der Seele Willen.
Heute opfern sie die Seele, um des Leibes Willen.
Es gibt nur einen Krieg. Das ist der Krieg gegen den Menschen!
All das hast Du geschrien.
Ich habe noch nie einen anderen Menschen so schreien hören, wie Dich.
Nie zuvor. Und nie danach.
Als Unternehmer – warst Du ein großer Dilettant.
Eigentlich konntest Du mit den Dingen in der Kaiserwelt nicht richtig umgehen.
Aber ich weiß, dass Du nie, kein einziges Mal, ein Übel plantest.
Du agiertest spontan und mit der Nase über den Wolken.
Die Menschen, die mit Dir arbeiten wollten, hast Du zur Weißglut gebracht.
Unsere Fahrten waren oft turbulent.
Du warst ein streitbarer Freund. Das war sehr anstrengend.
So haben auch wir oft gestritten.
Wie die Kesselflicker, dachte ich oft.
Haben uns getrennt. Immer wieder. Dann wussten es alle.
Wenn wir dann wieder gemeinsam irgendwo ankamen, war das Staunen groß.
Viele fürchteten unsere Besuche, wurden sie doch im Nu zum Schiedsrichter erklärt.
Das, was Du damals mir übertragen hast,
auf dem Schneefeld, oben, auf der Höhe, in dem Winter 1991 -
ich habe mich all die Jahre darum bemüht, es umzusetzen.
Und ich denke, es ist mir gelungen, die Zeichnung,
die Du mir damals gemalt hast, zum Menschenweg zu entwickeln.
Den Weg von der Schwere in die Leichte.
Vor vier Jahren habe ich mich von Dir getrennt. Aber nicht doch.
Wie hätte ich mich von Dir trennen können.
Es war nur eine andere Zeit angebrochen. Mehr nicht.
Du warst fassungslos, empört, entsetzt.
Es musste sein. Ich konnte es Dir nicht erklären. Ich musste gehen.
Um Deiner Bitte zu folgen, Dein Werk weiterzuführen.
Von Dir habe ich gelernt, dass es kein Ende gibt.
Es gibt immer nur das Ende einer Endlichkeit.
Und den Beginn einer neuen Endlichkeit.
So ist es.
Ich hab noch einen Koffer mit Notizen. Und mit Bändern.
Und ich habe eine Jacke. Die hätte ich gerne auf Dein Grab gelegt. Sie gehört zu Dir.
Jetzt, wo Du für immer aufgehört hast zu sprechen,
werde ich sie sorgsamer bewahren.
Vielleicht werde ich die Bänder eines Tages schreiben. Vielleicht auch nicht.
Vielleicht werde ich die Notizen eines Tages einem jungen Mädchen oder einem jungen Mann
in die Hand drücken. Vielleicht.
Und sagen: Das war ein Mensch. Er war der wunderbarschrecklichstestärksteklügsteunbe
rechenbarsteordentlichstebescheidensteunbescheidensteunmöglichstechaostischstege
ordnetstegerechtesteungerechtestewahrheitsfanatiker, dem ich je begegnet bin.
Ich kannte ihn.
Es war eine große Liebe.
Leeder, 20. April 2010,
Diesen Brief schrieb ich am Tage seines Todes.
W. H.
Wilfried Hacheney war der Erfinder des levitierten Wassers.
Er hat in den achtziger und neunziger Jahren eine Bewegung ausgelöst.
Zwei gemeinsame Bücher sind erschienen:
Feuer, Geheimnis der Geburten.
Wasser, ein Gast der Erde.
Ein Un-buch, nannte es Gerhard Wehr.
Womit er recht hatte.