Der allerkleinste Esel
Eigentlich besaß Sisal nicht zwei, sondern drei Esel.
Aber der dritte war so klein gewachsen, so aberwinzig klein – dass er ihn gar nicht mitzählte.
In einem fernen Land lebte ein Bauer namens Sisal.
Einmal in der Woche brachte er seine Ernte zum Wochenmarkt in die Stadt. Sisal besaß kein Auto. Aber er hatte zwei kräftige Lastesel. Denen band er die breiten Körbe auf den Rücken, mit Früchten oder Gemüse, und trieb sie vor sich her den langen, staubigen Weg.
Eigentlich besaß Sisal nicht zwei, sondern drei Esel.
Aber der dritte war so klein gewachsen, so aberwinzig klein – dass er ihn gar nicht mitzählte.
Wer nun glaubt, dass der allerkleinste Esel froh darüber war, nicht arbeiten zu müssen, der täuschte sich.
Es war das ganze Unglück des allerkleinsten Esels, keine schweren Körbe tragen zu dürfen und nicht mit den anderen mit zu dürfen in die Stadt. In der Stadt, das wusste er, in der Stadt war etwas ganz Besonderes zu sehen. Was das war, das wusste er freilich nicht. Er war ja nie mitgekommen.
Waren nun die anderen losgezogen, dann schaute er ihnen nach – grimmig, missmutig.
Immer muss ich an derselben Stelle stehenbleiben! dachte er, immer muss ich mich hier langweilen!
Dann schaute er hinauf in den Himmel.
Ach könnt‘ ich doch wie die Wolken ziehen, ach könnt ich doch wie die Vögel fliegen, ach könnt ich doch, ach könnt ich doch...
Eines Tages wurde einer der beiden großen Esel krank.
Sisal hatte an diesem Tag besonders viel geerntet.
Er brauchte einen zweiten Esel.
Da kam ihm der allerkleinste Esel in den Sinn.
Ach, dachte er, einmal, ein einziges Mal werde ich ihm schon etwas zum Schleppen geben dürfen.
Und er packte dem allerkleinsten Esel zwei dicke Körbe auf den Rücken. Wie freute sich der allerkleinste Esel. Zwar war er kaum noch zu sehen, bis auf den Boden hingen die beiden Körbe hinunter, aber der kleine Esel hätte vor Freude am liebsten ein paar Sprünge gemacht.
So zogen sie miteinander den weiten staubigen Weg. Heiß war es an diesem Tag.
Es war schon Mittag, als sie endlich in der Stadt angekommen waren.
In der Nähe des Stadttores hörte man laute Musik, Schellen, die gegen einander schlugen, Rasseln, Flöten.
Ein Fest wurde gefeiert. Mit einem Harlekin, einem Feuerschlucker, und die Musikanten spielten dazu auf.
Der kleine Esel blieb verwundert stehen. So etwas hatte er freilich noch nie gehört.
Lustig ist es also in der Stadt, dachte er. Jetzt weiß ich es.
Sie bogen in eine düstere Gasse ein.
An eine Mauer gelehnt saß ein Bettler. Er hatte nur ein Bein, seine beiden Augen waren verbunden. Neben ihm stand ein Schälchen für Almosen, das Schälchen war leer. Der allerkleinste Esel blieb verwundert stehen.
Traurig ist es also in der Stadt, dachte er. Jetzt weiß ich es.
Sisal kam mit seinen beiden Eseln an einem hellen, großen Haus vorbei. Das Tor stand weit offen und man konnte in einen Innenhof sehen. Blumen blühten dort und kleine Bäume. Zwischen den Blumen und Bäumen saß eine Mutter mit ihrem Säugling im Arm.
Sie wiegte das Kind und sang ein Lied.
Der kleine Esel blieb verwundert stehen.
Friedlich ist es also in der Stadt, dachte der kleine Esel. Jetzt weiß ich es.
Plötzlich hörten sie ein großes Geschrei. Als sie um die nächste Straßenecke bogen, sahen sie zwei Männer. Sie hielten sich gegenseitig bei den Schultern fest. Schüttelten sich. Einer verlor das Gleichgewicht und fiel gegen den allerkleinsten Esel. Fast wäre der allerkleinste Esel umgefallen und die Körbe von seinem Rücken gerutscht. Da zog ihn Sisal rasch weiter.
Gefährlich ist es also in der Stadt, dachte der kleine Esel. Jetzt weiß ich es.
Da hörten sie lautes Pferdegetrappel. Eine prächtige Kutsche fuhr an ihnen vorbei. In der Kutsche saßen ein Mann und eine Frau in festlicher Kleidung. Der allerkleinste Esel blieb verwundert stehen.
Aufregend ist es also in der Stadt, dachte der kleine Esel. Jetzt weiß ich es.
Endlich waren sie am Wochenmarkt angekommen. Sisal band die Esel an einer Mauer an. Richtete seinen Stand auf, lud die Körbe aus.
Stellte sich neben seinen Stand und begann lauthals zu schreien.
Frische Honigmelonen, frische Eier, frische Tomaten, frische Paprika, frische Zwiebeln, frische Kräuter ….
So stand er und schrie und schrie und schrie, bis seine Ware verkauft war.
Den ganzen Nachmittag standen die Esel an die Mauer gebunden.
Langweilig ist es also in der Stadt, dachte der kleine Esel. Jetzt weiß ich es.
Bis zum Abend mussten sie warten, bis Sisal seine Ware verkauft hatte. Dann band Sisal die leeren Körbe auf ihre Rücken und begann den Heimweg.
So ist das also in der Stadt.
Traurig und lustig,
gefährlich und friedlich,
aufregend und langweilig
ist es also in der Stadt. Jetzt weiß ich es.
Als sie zu Hause angekommen waren, sank der allerkleinste Esel auf sein Lager, müde und froh über das, was er gesehen hatte.
Der zweite Esel war bald wieder gesund. Und konnte wieder große und schwere Körbe tragen.
Als sie zum Markt aufbrachen, schaute ihnen der allerkleinste Esel hinterher.
Er sah zu den Wolken hinauf, wie sie über ihn hinwegzogen. Er sah die Vögel vorbeifliegen. Und war froh, der allerkleinste Esel zu sein, den niemand brauchen konnte, weil er den anderen nur bis zum Bauch reichte.