
Der Räuber Knarz
Er besaß alles, was er zum Leben brauchte
In einem finsteren Wald lebte vor Zeiten ein Räuber. Sein Name war Knarz. Der Räuber Knarz war der friedlichste Mann weit und breit. Ja, er war der glücklichste Räuber, den man sich überhaupt vorstellen kann. Denn Knarz besaß alles, was er zum Leben brauchte. Er besaß ein Häuschen gegen Wind und Regen. Er besaß eine Gartenbank zum Schlafen. Und: er besaß eine Schatztruhe.
Knarz hatte den ganzen Tag viel zu tun. Er zählte. Er zählte all die gestohlenen Ketten und Uhren und Armbänder und Broschen und Ohrringe. Er hatte jeden Gegenstand mindestens schon einige hundert Male gezählt. Aber vom Zählen konnte er gar nicht genug bekommen.
Nachts schlief er meist auf seiner Bank vor dem Häuschen. Er lag gern unter freiem Himmel. Außerdem war er dann ganz in der Nähe seiner Truhe. So schlief er ruhig und brauchte sich keine Sorgen zu machen. Denn wer würde wohl aus einer Schatztruhe stehlen, neben der der Räuber lag?
Eines Tages bekam Knarz Besuch. Knarz bekam sonst nie Besuch. Wer wollte denn schon beraubt werden? Es war ein junger Mann, der sich dem Räuber freundlich näherte. Er trug nichts an sich, was man ihm hätte stehlen können. Nur einen Weidenstecken mit einem Taschentuch daran.
Freundlich lächelnd setzte er sich neben Knarz auf die Bank. Dem blieb vor Staunen der Mund offen stehen. So etwas war noch nie geschehen. „Wie kannst du es wagen, dich einfach neben mich zu setzen? Und wer bist du überhaupt?“ wollte Knarz wissen. „Ich bin Johann“, sagte der Fremde und sah ihn freundlich an. „Und was machst du hier?“ wollte Knarz wissen. „Ich bin auf dem Weg nach Iliana. Und mein Weg führt direkt an deiner Bank vorbei.“ Knarz brummte. Er wollte nicht zugeben, dass er nicht wusste, wo Iliana ist. Aber dann fragte er doch: „Und wo ist Iliana?“ „Da“, sagte Johann und zeigte mit dem Finger schräg in die Luft.
„Und was ist Iliana?“ wollte Knarz wissen. „Ach“, sagte der Fremde, und lehnte sich auf der Bank zurück, „Iliana ist ein wunderschöner Ort.“ „Und was ist an Iliana schön?“ wollte Knarz wissen. „In Iliana ist es hell und warm. Der Himmel ist so blau wie die Flüsse, und aus den Wassern springen kleine Fische vor Vergnügen in die Luft. Niemand streitet, niemand hat Angst. Die Hasen und die Rehe begrüßen die Fremden, und überall blühen weiße Blumen zur Freude der Augen.“
Knarz musste über Johann lachen. Wie der schwärmte … Und dann konnte Knarz plötzlich nicht mehr lachen. Er merkte, dass er ganz gern auch einmal etwas anderes täte, als immer nur im finsteren Wald zu sitzen und zu zählen. Er merkte, dass er gern einen Freund hätte. Und er merkte, dass er auch gern einmal weiße Blumen sehen würde. „Meinst du, dass ich mit dir kommen kann?“ fragte er Johann. „Aber natürlich. Komm, wir gehen gleich los!“
„Halt! Ich muss doch meine Schatztruhe mitnehmen. Meine Truhe kann ich doch nicht hierlassen. Dann besitze ich ja nichts mehr!“ „Ja, aber wie sollen wir das denn machen? Wir können sie doch nicht tragen. Sie ist zu schwer.“ „Wir müssen sie ziehen. Wir ziehen sie einfach hinter uns her“, sagte Knarz. „Wir binden einen Strick um die Truhe und ziehen sie hinter uns her.“
Knarz und Johann banden einen Strick um die Truhe. Dann schlangen sie sich die Enden um die Handgelenke und zogen. Sie zogen und zerrten und rissen an der Truhe. Aber nach einer ganzen Stunde hatten sie erst wenige Meter hinter sich gebracht.
„Es hat keinen Sinn“, sagte Johann, „so kommen wir nie nach Iliana! Ich muss ohne dich und deine Truhe weiterziehen.“ „Du hast recht“, sagte Knarz, „es hat keinen Sinn, ich muss mit meiner Truhe zurückbleiben.“
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Knarz winkte Johann traurig nach. Von diesem Tag an war Knarz kein glücklicher Räuber mehr. Das Zählen macht ihm keine Freude mehr, und böse starrte er auf seine Schatztruhe. Wenn ich die nur nicht hätte, dachte er und überlegte und überlegte und überlegte. Dann fiel ihm etwas ein: Ich werde alles verschenken. Dann kann ich tun, was ich möchte und hingehen, wohin ich will, das dachte er.
Mit beiden Händen griff er in seine Schatztruhe, packte, was er fassen konnte und machte sich auf zum nächsten Dorf. Verschenken! dachte er in einem fort, ich werde alles verschenken.
Auf der Straße kam ihm eine junge Frau entgegen. Als sie Knarz erkannte, drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte schreiend davon. „Hilfe!“ schrie sie, „Hilfe, man will mich berauben! Hilfe! Hilfe!“ Knarz rannte so schnell er nur konnte hinter ihr her: „Nein“, schrie auch er, „Nein! Nein! Nein! Ich will doch nur etwas ver-schen-ken!!“
Verdutzt blieb die Frau stehen, und Knarz drückte ihr seinen Schmuck in beide Hände. Es dauert nicht lange, da hatte sich die Kunde von Knarz, dem schenkenden Räuber, verbreitet. Die Leute kamen von überall her durch den finsteren Wald gezogen und kehrten, die Hände voller Kostbarkeiten, wieder nach Hause zurück. Endlich war die Truhe leer.
Da brach sich Knarz, der große Räuber, einen Weidenstecken vom Busch. An das oberste Ende band er sich sein letztes Taschentuch, und vergnügt machte er sich auf den Weg nach Iliana.