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Iliana

Ich bekomme immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht glücklich bin bei blauem Himmel und regem Appetit.

Wildschweinkotelett mit Krautkrapfen und Weinsauerkraut oder Hirschfilet in Mandel-Pfeffersauce, Hasenkeule mit Himbeeren oder Fasanenbrust mit Kirschen und Ananas. Das waren die Fragen. Jeden Morgen beim Frühstück, wenn das Menü für den Rest des Tages ausgesucht werden musste. Oh, diese freundlichen Leute! Oh, diese Gemütlichkeit! In mir brennt was.
Da hock' ich an Euren Tischen und es ist schon Abend und immer noch sitzt ihr. Da hock ich, flüchte in den eigenen Rücken, wohin sonst? Der kann gar nicht so viel fassen, beult sich nach außen.  Onkel Karl drückt mir seine Finger in die Rippen. Geradesitzen, ruft er. Laut. Und ist guter Dinge. Ich kenne viele, die Feste mögen, die sind mir ein Rätsel, seit jeher. Bei Festen steh' ich herum. In fremden Geschichten. Und weiß nicht, was tun. Wohin mit den Händen? Oder mit den Gedanken? Der Onkel drückt mich, und die Tanten auch. Erzählen, sie hätten schon damals auf dem Wickeltisch gesehen ... Wie soll ich denn mit solchen Worten umgehen? Ich finde es peinlich, so etwas zu sagen, jetzt, wo ich in meinem schönsten Kleid vor ihnen stehe. Dunkelblau.


Drei Tage lang soll dieses Fest noch dauern, kein Winkel, in dem ich mich hätte verstecken können, überall spüren sie mich auf. Ach wie gern wäre ich einer von ihnen, könnte die Zeit versitzen ohne das Gefühl von Vernichtung.


Es waren schon dreißig Stunden vergangen. Nie hatte ich mich davor außer Sichtweite begeben. An diesem Mittag ging ich zum erstenmal um das Haus. Da sah ich in der Hecke eine Öffnung. Ein Loch in der Hecke, groß genug, dass man hindurchkriechen konnte. Von dem Garten nebenan war ein Teil zu sehen. Und ein Teil von einem kleineren Haus. Ich drückte mich durch die Öffnung. Dieser Garten war wilder, als er durch die Hecke geschienen hatte, und das Häuschen kleiner, ja fast winzig. Es sah unbewohnt aus, die Fenster ohne Gardinen, eine Scheibe war eingeschlagen. Die Haustür stand halboffen. Ich war ein schüchternes Mädchen. Und auch etwas ängstlich. Bin es heute noch. Wenn ich mich trotzdem traute, die Tür aufzustoßen, dann weiß ich heute noch nicht, woher mir der Mut gekommen ist.
Hallo … rief ich. Hallo … und wusste, wie dumm das klang.
Niemand antwortete. Die Zimmer waren leer, ausgeräumt. Nur eine Luftmatratze lag auf dem Boden. Aber der Boden war gekehrt. Neben der Luftmatratze eine halbvolle Flasche Mineralwasser. In der Küche standen die eingebauten Schränke offen. Leer. Auf dem Boden hatte jemand ein Schälchen mit Milch hingestellt. Für eine Katze. So sah es aus. Ich wollte gerade wieder das Haus verlassen, da stand er, ein wenig außer Atem.
Hast du ihn gesehen? fragte er, und ich hatte den Eindruck, ihn schon immer zu kennen.
Wen? fragte ich.
Gott sei Dank, sagte er, ich hatte schon Angst, er könnte gekommen sein.
Wo bist du her? fragte er.
Von nebenan, sagte ich.
Aha, sagte er, von der Hochzeitsgesellschaft, ja die feiern gerne, die Leute. Setz dich! sagte er.
Er zeigte mit der Hand auf die Luftmatratze.
Mehr hab' ich nicht, sagte er und schien sich darüber zu freuen.
Wir hockten uns nebeneinander auf den Boden.
Ich heiße Hardy, sagte er, und du?
Ich heiße Jagi.
Das ist gut, sagte er, Jagi ist ein schöner Name.

Wir schwiegen eine kleine Weile. Ich bin nur noch ein paar Stunden hier, hast Glück, dass du mich überhaupt noch getroffen hast, sagte er dann.
Mir war es so vertraut in seiner Nähe, ich hätte am liebsten geschwiegen, aber ich merkte, dass er mir etwas erzählen wollte und dass er auf eine Frage wartete.
Wo gehst du hin? fragte ich.
Ich gehe nach Iliana. Kennst du Iliana?
Er fragte, als wäre es ein Fehler, es nicht zu kennen.
Nein, sagte ich, und es war mir peinlich.
Iliana liegt da!
Er zeigte mit dem Finger schräg durch den Raum, durch die Wand hindurch.
Im Osten liegt Iliana, von hier ausgesehen.
Ich wusste, es konnte, ja, es musste ein ganz ungewöhnlicher Ort sein, und ich bat Hardy, mir davon zu erzählen.


Hatte ich je einen Zauberer gesehen vor diesem? Wie er das Zimmer im Augenblick in ein Tal wandelte, wie die niederen Wände wuchsen zu riesigen Bergleibern, sich die Decke hob und einen mächtigen Himmel freiließ, der sich gleich einer riesenhaften Kuppel über uns wölbte, wie er unter unsere Füße Steine legte, durch den Raum den Fluss führte, den Strom, der winzige Wassertropfen in unsere Gesichter stieb. Kopfgroße Blumenkelche wuchsen in leuchtenden Farben in diesem kleinen dunklen Raum. Vor der Haustür hatte ich ein paar Blümchen gesehen, und plötzlich drängten sich da Stauden, wuchsen sich gegenseitig in den Weg, eine Großzügigkeit, eine Fülle, ein Überfluss.


Ich hatte mich nicht gerührt, ich wollte ihn nicht unterbrechen, ich wollte zuhören, in seinen Bildern verweilen, mich niederlassen. Für immer.
Pst, sagte er plötzlich und legte den Finger an die Lippen. Pst! Er kommt!
Ein Schatten war durch den Raum gehuscht. Eine kleine Katze.
Sie setzte sich zwischen Hardy und mich.
Ich dachte schon, er wäre es, sagte er. Er kann nämlich jeden Augenblick kommen ...! Kennst du meinen Bruder?
Ich war verblüfft. Wie konnte er annehmen, dass ich seinen Bruder kannte. Kannte ich doch ihn selber auch erst seit einer halben Stunde.
Aber er erwartete gar keine Antwort.
Mein Bruder heißt Werner, sagte er. Er ist behindert, wie ich. Er ist den Leuten ein Rätsel, wie ich. Er ist ein Kostverächter. Er mag keine Feste, und er mag keine Hochzeitsgesellschaften, und das Grässlichste ist ihm die Gemütlichkeit. Wenn er mal lacht, dann erschrecken sich die Leute mehr, als wenn er zornig ist. Wir gehen zusammen, mein Bruder und ich. Er kommt mich holen. Er muss jeden Augenblick kommen. Was bin ich froh, dass ich gehen kann, einfach so, dass ich nichts besitze, ich kann gehen, jederzeit. Ich lasse nichts zurück. Gar nichts. Mir tun die anderen leid, die nicht mitkommen können. Niemandem wünsche ich es, hier bleiben zu müssen.


Hardy war nachdenklich geworden, und
es kam mir vor, als hätte er meine Anwesenheit vergessen.


Ich stand auf. Sie würden mich bald suchen kommen. Ich wollte nicht, dass sie mich bei ihm finden. Er sollte mein Geheimnis bleiben. Meine einzige Wehr gegen die folgenden Stunden.



Ich komme morgen wieder, sagte ich, wenn ich darf.
Ja, ja. Er schaute mich an, als stände ich entfernt von ihm, irgendwo.
Ja, ja. Versuchen kannst du es. Vielleicht bin ich ja noch da, sagte er. Und als ich mich umdrehte und aus dem Haus lief, rief er mir nach. Viel Glück! rief er mir nach.


Auf der Veranda hatte niemand mein Verschwinden bemerkt, sie waren in verzwickte Gespräche vertieft, hielten ihre Gläser fest in Händen, und maßen sich mit Blicken und Worten. Nichts hatte sich geändert, aber alles war anders. Fern hab' ich die Stimmen gehört, sah die rotbemalten Lippen beim Reden, die Hälse beim Schlucken, von weitem. Irgendjemand lachte, irgendjemand hustete, irgendjemand rülpste leise neben mir. Ich hatte meinen Leib zwischen den anderen abgesetzt und war auf dem Weg nach Iliana.


Da fiel es mir ein, wie ein Schlag, wie ein Blitz. Warum hatte ich ihm nichts gesagt? Warum hatte ich ihm nicht gesagt, dass er mich nachholen soll? Dass er mich nicht zurücklassen darf! Dass ich, wie er, bei den Entschlossenen zu Hause bin und nicht bei den Genießern. Sicherlich werde ich es noch ein paar Jahre so aushalten, solange, bis sie mich schon zu den Erwachsenen zählen würden. Aber dann, aber dann. Niemals, dachte ich, niemals werde ich erwachsen genug werden, um nicht mehr nach Iliana gehen zu wollen.


Aber wie sollte er mich finden, wie? Ein Mädchen, das Jagi hieß. Er brauchte meine Adresse, meinen ganzen Namen. Ich musste ihm meine Adresse mitgeben.


Ich schrieb. Ich schrieb in großen, zittrigen Buchstaben den Namen des Ortes, an dem ich mit meinen Eltern lebte, den Namen der Straße, die Nummer des Hauses, ich schrieb in großen zittrigen Buchstaben.


Die Nacht wollte gar nicht enden, so lang war diese Nacht. Ich lag in meinem Bett, hellwach.
Und wenn er nicht mehr da sein würde morgen früh? Und wenn er schon gegangen war? Was dann? Ja, was dann? Wie sollte er mich je abholen kommen, wenn er doch nicht wusste, wo ich zu finden war?


Am nächsten Morgen ganz in der Früh schlich ich hinaus, in den Garten, um das Haus, durch die Hecke, da saß er. Vor der Haustür, auf seinem Köfferchen.
Er muss gleich hier sein, rief er mir entgegen und er schien guter Dinge.
Ich bin nur gekommen, um mich noch einmal zu verabschieden, sagte ich. Dann zog ich den Zettel aus der Hosentasche.
Er nahm ihn, las, was darauf geschrieben stand, faltete ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Dann sah er mich sanft und lächelnd an:
Ich hole dich, sagte er, wenn du es dann noch willst. Schau, du bist klein, und wie kannst du wissen, was du über Iliana denken wirst, wenn du erst einmal eine große Frau bist.
Es gibt für mich keinen anderen Ort. Nie! sagte ich.
Er stand auf. Bis zum Nabel reichte ich ihm. Er beugte sich über mich, zog mein Ohr an seinen Mund: Aber lass mich jetzt allein, tu mir den Gefallen. Ich will allein sein. Wenn er kommt.
Er drückte meine Schultern, küsste mich auf die Stirn. Ich drehte mich um, und ich rannte so schnell ich konnte zur Hecke, schlüpfte hindurch.


Wie muss ich ausgesehen haben, im Hause nebenan wollten sie mich gleich in Decken hüllen, mir warmen Tee einflößen, einen Arzt rufen. So blass war ich? Oh, ihr lieben Leut! Es war mir nichts Schlechtes widerfahren, nein, so ganz und gar nicht. Es ist nur die Freude.


Noch einen ganzen, langen Tag verbrachte ich im Kreise der Feiernden, zwischen Rehrücken saß ich und Geschnetzeltem und hab' dem Raum die Onkel und Tanten nicht mehr angemerkt. Wie Schatten gleichsam saßen sie, und wirklich waren einzig meine Gedanken.


Von diesem Tage an wartete ich. Auf ein Zeichen, auf einen Gruß, auf ein Wort. Anfangs waren die Tage eingeteilt in zwei Hälften, einer glücklichen und einer traurigen. Glücklich, die Stunden, in denen ich hoffte, dass der Briefträger ein Kärtchen bringen würde, eine Nachricht. Und traurig, wenn zwischen all dem Geschriebenen nichts, kein einziges Wort von ihm dabei war. Ich suchte zu seinem und meinem Trost allerlei Entschuldigungen, Erklärungen, warum er in all den Jahren nicht ein einziges Mal von sich hören ließ. Später vergaß ich öfter mal das Warten, und noch später wartete ich gar nicht mehr.
Ich war gewiss! Ja, die Gewissheit, dass er mich holen würde, brannte wie eine kleine winzige Flamme in mir, stetig und ohne je zu flackern. Und ich fragte mich schon, wie und woher wohl eine solche Gewissheit kommen könnte.


Wir waren schon älter geworden, meine Freunde fingen an, sich allerlei Gedanken zu machen. Zum Beispiel, wer was einmal werden würde. Solche Gedanken machten sie sich. Und wer wo einmal leben würde. Wie sie herumrätselten! Und sich Bilder für ihr Leben suchten, in denen sie einmal sein wollten. Wie Anker warfen sie diese Bilder aus, um sicher zu sein, dass sie nicht wieder abtreiben konnten.
Auch ich hatte mein Bild, hatte meinen Anker ausgeworfen. Längst. Und still saß ich in ihrem Kreis, abseits dieser Bewegtheit brannte die kleine Flamme.


Fünf Jahre sollten vergehen, bis ich wieder an den Ort zurückkam, an dem ich Hardy kennengelernt hatte, fünf lange Jahre.


Wieder war es eine dieser großen Familienfeiern.
Aus allen Richtungen kamen sie angereist. Wie damals. Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins.
Ich war derweil eine junge Frau geworden.
Auch hatte ich es gelernt, nicht mehr leidend an Festen teilzunehmen, sondern sie sogar mit einer gewissen Neugierde zu betrachten. Zwischen Mittag und Abend ging ich hinaus in den Garten, um ein wenig Luft zu atmen, mehr nicht.
Da sah ich es, das Loch in der Hecke, es war kleiner als damals. Ich konnte nicht widerstehen. Ich konnte nicht. In meinem besten Kleid bin ich hindurchgekrochen. Wer mochte jetzt wohl hier wohnen, jetzt, wo Hardy schon lange nicht mehr da war?


Das Häuschen sah verwahrloster aus als damals, nahezu alle Scheiben waren zerbrochen und der Garten eine Wildnis. Wie damals stand die Türe offen. Ich wollte nähertreten, als ich ihn aus der Tür treten sah, mit einem Koffer in der Hand. Er sprach laut mit sich selber, und bevor er mich sehen konnte, versteckte ich mich hinter einem Busch. Ich musste mit dem Herzklopfen fertig werden, das mir den Hals versperrte, und mit zitternden Knien und mit kurzem Atem kroch ich ungesehen wieder durch die Hecke zurück.


Von all dem bekannten Gejammer, dem Weh und Ach, dem Hadern und Verzagen, dem beißenden Schmerz und den bohrenden Fragen, die an diesem Tag in mir ausbrachen und mich niederbrannten, will ich gar nicht berichten. Das schien mir letztlich auch nicht wichtig.


An diesem Tage begriff ich, was mir niemand hätte sagen dürfen. Was ich niemandem geglaubt hätte.
Ich musste denn Weg nach Iliana alleine finden. Niemand würde mich abholen. Niemand würde mich hinbringen. Das begriff ich. Und das allein schien mir wichtig.

Iliana: Text
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