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Meinem Moritz: Bild
Weitab von der nächsten Stadt,
auf einem runden Hügel stand ein Schloss.
Ein prächtiges Schloss mit runden Bögen
und Säulen neben dem Eingang.
Jeden Sommer, wenn das Land lieblich und grün war,
dann wohnte dort ein reicher Mann aus der Stadt.
Er kam nie allein. Er brachte seine Tochter mit, seine Freunde, seine Pferde und seine Windhunde.
Im Winter, wenn es kalt war, die Wege
vom Regen aufgeweicht oder Schnee
und Eis das Land bedeckten,
dann waren der reiche Herr, seine Tochter, seine Freunde,
seine Pferde und seine Windhunde in die Stadt zurückgezogen,
und das Schloss stand leer.
Unten,
am Fuße des runden Hügels,
hatte ein Bauer mit seiner Frau einen Hof.
Da die Erde lehmig war und der Boden steinig,
hatten die Beiden große Mühe, ihr täglich Brot zu erwirtschaften.
Die einzige wahre Freude in ihrem Leben war Emy, ihre Tochter.
Emy war ein stilles, liebes Mädchen, willig, alles zu tun, um die Eltern nicht zu kränken oder ihnen das Leben noch schwerer zu machen, als es ihnen ohnehin war.
Jeden Morgen um fünf Uhr machte sie sich auf den weiten Weg zur Schule in die nächste Stadt.
Den Ranzen auf dem Rücken machte sie sich auf den langen Fußmarsch.
Der Weg war so weit, dass Emy erst am späten Nachmittag wieder nach Hause kam.
Dem armen Bauer tat seine Tochter leid. Und er dachte viel nach, wie er ihr helfen könnte.
So entschloss er sich eines Tages, ein Pferdchen zu kaufen. Und da er nicht viel Geld ausgeben konnte,
blieb nur das kleinste und hässlichste übrig. Es hatte viel zu kurze Beine, einen viel zu dicken Bauch, viel zu breite Hufe, viel zu große Ohren, eine viel zu lange Unterlippe, eine viel zu struppige Mähne. Emy nannte das Pferdchen Moritz, und von ihrer ersten Begegnung an waren sie die besten Freunde.
Schon am nächsten Tag musste Emy nicht mehr zu Fuß gehen.
Moritz trug sie den langen Weg in die Schule und am späten Nachmittag wieder zurück.
Und auch am übernächsten Tag und all die Tage darauf.
Hügelauf, hügelab … hügelauf, hügelab … hügelauf, hügelab…
Hügelauf, hügelab … hügelauf und hügelab.
Wieder war es Sommer geworden. Die feine Gesellschaft hatte das Schloss bezogen.
An einem Tag, nach der Schule, saß Emy im Garten. Neben ihr graste Moritz.
Hufe waren zu hören.
Die Tochter des Schlossbesitzers ritt vorbei. Als sie Moritz sah, hielt sie an.
Dann fing sie an zu lachen, zeigte mit dem Finger auf ihn.
Sie lachte und lachte und konnte nicht mehr aufhören zu lachen.
Was für ein Untier! Das ist ja grottenhässlich. Es hat ja viel zu kurze Beine, einen viel zu dicken Bauch, viel zu breite Hufe, viel zu große Ohren, eine viel zu lange Unterlippe und eine viel zu struppige Mähne.
Gehört das etwa dir?
Emy war ganz rot geworden, senkte den Blick, schüttelte den Kopf:
Nein, es gehört nicht mir. Jemand hat es hier abgestellt …
So ein komisches Tier, nein, so ein komisches Tier... Lachend und vergnügt ritt sie weiter.
Die ganze Nacht lag Emy wach. Der Mond schien durch das offene Fenster und warf seltsame Schatten an die Wand. Und wenn sie einmal doch kurz eingenickt war, hatte sie schreckliche Träume.
Am nächsten Morgen als der Vater in den Stall ging, stand Moritz mit gesenktem Kopf in seiner Box.
Er scheint krank zu sein. Was könnte er nur haben?
Der Vater war besorgt.
Emy saß allein im Garten, tat so, als würde sie lesen. Aber durch die Tränen konnte sie keine Zeile erkennen.
Wie konnte sie nur so tun, als würde Moritz nicht zu ihr gehören? Er, der sie Tag für Tag getragen hatte. Hügelauf, hügelab. Wie konnte sie ihn nur so verraten?
Da hörte sie von weitem die Hufe eines Pferdes. Es war die Tochter des Schlossherrn.
Emy sprang auf, lief in den Stall, packte Moritz am Halfter, zog ihn hinter sich her und stellte sich mit ihm quer über den Weg.
Hey, mach‘, dass du wegkommst mit dem grottenhässlichen Tier!
Aber Emy rührte sich nicht vom Fleck, blieb stocksteif stehen mit Moritz am Halfter.
Gnädiges Fräulein, bevor ich aus dem Weg gehe, werde ich Ihnen jetzt etwas sagen.
Das hier, das ist mein Moritz.
Er hat viel zu kurze Beine, einen viel zu dicken Bauch, viel zu breite Hufe, viel zu große Ohren, eine viel zu lange Unterlippe und eine viel zu struppige Mähne.
Im Frühling trägt er mich durch den Regen, im Sommer durch die Hitze, im Herbst durch den Sturm, im Winter durch den Schnee.
Und er würde mich noch viel weiter tragen, wenn es nötig wäre. Das wollte ich Ihnen nur sagen.
Nach dem letzten Satz drehte sie sich um und zog Moritz von der Straße zurück.
So eine Unverschämtheit, Frechheit…
Laut schimpfend ritt die Tochter des Schlossherrn weiter.
Wie kommt es denn, dass er jetzt wieder frisst? Er hat auch keine warmen Ohren mehr, und den Kopf lässt er auch nicht mehr hängen. Der Vater wunderte sich.
Emy lächelte und schwieg.
Noch drei Jahre dauerte die Schulzeit. Noch drei Jahre trug Moritz sie den weiten Weg zur Schule und wieder zurück. Hügelauf, hügelab … hügelauf, hügelab.
Im Frühling durch den Regen, im Sommer durch die Hitze, im Herbst durch die Stürme, im Winter durch den Schnee. Und er hätte sie auch noch durch eine fünfte Jahreszeit getragen und noch viel weiter, wenn es nötig gewesen wäre.
Der letzte Schultag war gekommen. Ein Abschiedsfest sollte gefeiert werden, ein großes Fest. Emy hatte sich ein Kleid gekauft, weiß mit seidenen Schleifen. Und Schuhe mit einem roten Absatz, eine Handtasche aus goldenen Paletten. Das fand sie schön.
Um die Augen zog sie sich einen dicken dunklen Strich, färbte sich die Lippen rot. Nein, dieses Mal würde sie nicht mit dem Pony in die Schule kommen. Dieses Mal wurde sie von einem Auto abgeholt. Es wurde ein rauschendes Fest. Der Morgen graute schon, als Emy nach Hause gebracht wurde. Glücklich.
Moritz wollte sie noch einmal streicheln, ja, das wollte sie.
Moritz lag im Stroh, ganz still.
Er rührte sich nicht, als sie seinen Namen rief.
Schläft er?
Nein Moritz schlief nicht, Moritz atmete nicht mehr.
Als der Vater am Morgen den Stall betrat, lag dort reglos ein kleines Pferd mit viel zu kurzen Beinen, einem viel zu dicken Bauch, viel zu breiten Hufen, viel zu großen Ohren, einer viel zu langen Unterlippe und einer viel zu struppigen Mähne.
Und neben ihm im Stroh Emy, die Schuhe neben dem Pony, das Kleid voller Flecken und zerknittert, die schwarzen Striche um die Augen verlaufen.
Heute steht ein kleines Kreuz unter einem Baum im Garten. Dort, wo die Hölzer sich kreuzen, hat Emy ein Bild angebracht. Sie hat es selber gemalt.
Es zeigt ein Pferdchen. Es hat viel zu kurze Beine, einen viel zu dicken Bauch, viel zu breite Hufe, viel zu große Ohren, eine viel zu lange Unterlippe und eine viel zu struppige Mähne.
Darunter zwei Worte:
Meinem Moritz: Text
Meinem Moritz
Meinem Moritz: Text
Meinem Moritz: Text
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