
Namenlos
Das Wunderpferd
Ein kleiner Zirkus zog über Land, kreuz und quer, von Ort zu Ort. Er führte ein paar Wagen mit sich, einen richtigen Bären, ein zotteliges Kamel und drei kleine Äffchen. Die Pferde, die die Wagen zogen, waren schon etwas müde und nicht mehr jung.
Hinter dem letzten Wagen, an einen Strick gebunden, lief ein Pferd ganz allein. Es war schneeweiß, trug den Kopf hoch, und seine Hufe schienen zum Laufen kaum den Boden zu berühren. Die Zirkusleute nannten das weiße Pferd „Namenlos“, weil sie nicht wussten, wie es wirklich hieß.
Es ist ein Wunderpferd, erzählte Lililit, der alte Tierwärter. Es besitzt geheimnisvolle Kräfte. Rennen kann es so schnell, wie ein Pfeil fliegt. Niemand kann es einholen. Und über jede Mauer springt es hinweg, auch über die allerhöchste. Und zählen kann es und seiltanzen und auf zwei Beinen gehen und …
Warum macht es dann bei euch im Zirkus nicht mit? wollten die Leute von Lililit wissen.
Ach es gehorcht uns nicht, sagte er und machte ein ratloses Gesicht. Es gehorcht überhaupt niemandem. Darum lassen wir es einfach herumlaufen. Lililit dachte an sich und die viele Arbeit, die er mit Namenlos gehabt hatte. An Namenlos dachte er seltsamerweise überhaupt nicht.
An manchen Tagen band Lililit Namenlos von dem Strick los. Dann jagte es zur Freude aller Kinder einem Pfeil ähnlich, einem Lichtstreifen gleich über das Land und kehrte in großen Bögen zu Lililit zurück. Eines Tages hatte der Zirkus im ´Land der Reiter´ sein Zelt aufgeschlagen. Hier wurden viele Pferderennen veranstaltet. Die Sieger wurden gefeiert und vom König reich belohnt. Ja, wer hier etwas sein wollte, der brauchte ein gutes Ross.
Targo und Turgo wollen reich werden
Das wussten auch Targo und Turgo. Sie standen eben am Fenster des Schlosses. Da sahen sie in der Ferne einen Lichtstreifen, der sich rasch über das Land fortbewegte. Und sie glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als sich der Lichtstreifen alsbald in ein weißes Pferd verwandelte. Mühelos sprang Namenlos über die riesengroße Schlossmauer, durchquerte den Park und – war verschwunden.
Das ist ja ein Wunderpferd, sagten sie und waren sich augenblicklich einig: Dieses Pferd müssen wir haben!
Mit diesem Pferd werde ich jedes Springen gewinnen und reich werden, sagte Turgo.
Mit diesem Pferd werde ich jedes Rennen gewinnen und berühmt werden, sagte Targo.
Der König wird uns zujubeln, er wird uns ehren, er wird uns beschenken, sagten beide. Dieses Pferd müssen wir haben!
Ein Diener wurde ausgeschickt. Der sollte herausfinden, wem dieses Pferd gehörte.
Ach, erzählte der Diener als er wieder zurückkam, es gehört einem kleinen Wanderzirkus. Aber es soll völlig unbrauchbar sein. Geh! sagten die Brüder, kauf es dem Zirkus ab. Wir wollen es haben! Sie gaben dem Diener eine Handvoll Dukaten und schickten ihn los.
Der Zirkusdirektor war überrascht, dass ihm jemand Namenlos abkaufen wollte: Wenn ich Euch das Pferd gäbe, würden Eure Herren ein schlechtes Geschäft damit machen, sagte er. Es gehorcht niemandem.
Aber der Diener bestand auf dem Kauf. Er drückte dem Zirkusdirektor die Dukaten in die Hand. Dann packte er den Strick, mit dem Namenlos angebunden war, und zog das Pferd hinter sich her zu den Stallungen.
Targo und Turgo freuten sich sehr, als sie das weiße Pferd eingesperrt im Stall wiedersahen. Aber sie schienen es fürchterlich eilig zu haben. Und so rannten sie nur an Namenlos vorbei. Im Hinausrennen befahlen sie dem Stallknecht noch, das Pferd gut, ja, sehr gut zu bewachen. Dann eilten sie davon.
Das Rennen
Nur wenig später ließen sie sich beim König melden und erzählten: Wir haben ein Pferd, das springt höher als alle anderen Pferde auf der Welt, und es rennt schneller, als ein Pfeil fliegt. Nie im Leben habt Ihr ein ähnliches Pferd gesehen.
Der König konnte den beiden nicht recht glauben. Aber da er ein neugieriger König war, sagte er: Das will ich sehen! Er lud die besten Reiter mit den schnellsten Pferden des Landes ein. An denen sollte sich Fürst Targo mit Namenlos messen.
Am Tag des Rennens kamen viele, viele Leute. Der König mit seinem Gefolge nahm in der Ehrenloge Platz. Auf der Bahn drängten sich die Pferde. In ihrer Mitte Namenlos und sein Reiter, der Fürst Targo. Ich werde schneller sein als alle anderen, dachte Targo. Ich werde besser sein als alle anderen. Ich werde der Sieger sein. Ich werde reich werden! Ich werde berühmt werden.
An Namenlos dachte er seltsamerweise überhaupt nicht.
Jetzt hob der König die Hand zum Start. Alle Pferde stürmten im gleichen Moment los. Namenlos aber machte nur zwei Sätze, dann wirbelte er in der Luft herum und galoppierte in die andere Richtung davon.
Targo versuchte das Pferd aufzuhalten, er versuchte es umzuwenden, er riss an den Zügeln, er stemmte sich in die Bügel, er schimpfte, er schrie. Umsonst. Namenlos konnte er nicht aufhalten. Spät am Abend schlich er sich durch die Dunkelheit zurück. Er hoffte, von niemandem gesehen zu werden, so sehr schämte er sich, so sehr ärgerte er sich.
Das Springen
Am nächsten Tag eilte Fürst Turgo zu seinem König. Er entschuldigte sich für das Pech seines Bruders. Das nächste Mal wollte er selber reiten. Noch nie ist mir ein Pferd davongelaufen! prahlte er. Eure Majestät soll nur sehen, wie sein Pferd springen kann. Kein anderes Pferd im ganzen Land kann es mit ihm aufnehmen!
Der König konnte nicht recht glauben, was ihm Turgo sagte. Aber da er ein neugieriger König war, sagte er: Das will ich sehen! Und er lud die besten Springer des Landes ein. An denen sollte sich Fürst Turgo messen.
Wieder kam viel Volk, um das Wunderpferd zu sehen. Der König mit seinem Gefolge hatte in der Ehrenloge seinen Platz eingenommen. Fürst Turgo ritt an seinem König vorbei. Ich werde besser sein als alle andere, dachte er. Ich werde höher springen als alle anderen. Ich werde der Sieger sein. Ich werde reich werden! Ich werde berühmt werden. An Namenlos dachte er seltsamerweise überhaupt nicht.
Jetzt gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte los. Über das erste Hindernis flog es hinweg, federleicht. Ebenso über das zweite. Dann blieb es stehen, einfach so. Es senkte den Kopf und war nicht zu bewegen, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. So sehr der Fürst auch auf seinen Rücken schlug, ihm die Sporen in den Leib hieb, Namenlos rührte sich nicht. Nicht vor und nicht zurück.
Turgo fing an zu schimpfen, er hob die Peitsche, er gab ihm die Sporen … Namenlos rührte sich nicht.
Der König begann zu lachen, erst leise hinter vorgehaltener Hand, dann immer lauter und lauter. Mit ihm lachte der Hofstaat, und bald lachte das ganze Volk, grölte und schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen.
Fürst Turgo musste absteigen. Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Pferd hinter sich her vom Platz zu ziehen.
Die Kutschfahrt
Nun sollte man wohl annehmen, dass niemand mehr mit Namenlos etwas zu tun haben wollte. Aber da war Tanha, die Schwester von Targo und Turgo.
Tanha suchte schon seit langem das passende Pferd für ihre Kutsche. Aber keines war ihr bisher gut genug gewesen. Dieser Namenlos aber gefiel ihr von Anfang an. Den wollte sie haben. Ein Pferd wie dieses hatte nicht einmal die Königin. Mich werden die anderen beneiden, wenn Namenlos meine Kutsche zieht, dachte sie. Mich werden sie bewundern. Mir werden die Leute nachschauen, wenn ich die Straßen auf- und abfahre. An Namenlos dachte sie seltsamerweise überhaupt nicht.
Am nächsten Tag ließ sie das weiße Pferd anspannen. Und Namenlos zog die Kutsche zunächst ganz brav hinter sich her. Da beugte sich Tanha aus dem Fenster. Heda, rief sie dem Kutscher zu, nicht so lahm, sonst haben die Leute nichts zu schauen. Der Kutscher hob die Peitsche. Da fing Namenlos an zu rennen, schneller, immer schneller. Der Kutscher riss an den Zügeln, er stemmte sich in die Zügel, er versuchte die rasende Fahrt aufzuhalten. Umsonst.
Schon näherten sie sich dem Wochenmarkt. Und ehe es Tanha begreifen konnte, hatte die Kutsche die ersten Stände umgerissen. Obst, Eier und Gemüse flogen durch die Luft, die Hühner flatterten davon, die Marktfrauen flüchteten schreiend in die Hauseingänge. Endlich, am Ende des Ortes blieb Namenlos stehen. Tanha war längst ohnmächtig zusammengesunken.
Als sie wieder erwachte, hatte man sie nach Hause gebracht. Turgo und Targo saßen an ihrem Lager, schnaufend und stampfend vor Wut. Unten im Stall stand das beste aller Pferde. Mit ihm hätten sie reich werden können. Mit ihm hätten sie berühmt werden können. Mit ihm hätten sie …
Stattdessen hatte es sie alle lächerlich gemacht. Sie waren zum Gespött der Leute geworden. Und den Marktfrauen mussten sie ihre Stände ersetzen. Jetzt war Schluss! Aus!
Zum Henker!
Fort mit ihm! sagte Targo. Ja, fort mit ihm! sagte Turgo. Zum Henker mit ihm! sagte Targo. Zum Schlachter mit ihm! sagte Turgo. Tanha schwieg. Ihr schwirrte noch immer der Kopf.
Es war schon Nacht, als der wütende Turgo mit Namenlos, dem Wunderpferd, an die Tür des Schlachters klopfte. Da, das ist für Sie! brummte er.
Der Schlachter wunderte sich über diesen späten Besuch, er wunderte sich über das Angebot, und er wunderte sich über das weiße Pferd. Die Pferde, die ihm sonst gebracht wurden, die sahen ganz anders aus.
Aber er war müde, und so dachte er nicht länger nach. Er band Namenlos zwischen den anderen Schlachtpferden fest und ging zu Bett.
Sie dürfen es nicht töten
Ganz in der Nähe des Schlachters wohnte der kleine Johannes mit seinem Großvater. Jeden Morgen auf dem Weg zu Schule, ging er an dem Stall mit den Schlachtpferden vorbei. Manchmal trat er kurz ein, streichelte über die eine oder andere Pferdenase und lief weiter. Als er an diesem Morgen den Stall betrat, blieb er erschrocken stehen. Nie im Leben hatte er ein solches Pferd gesehen. Wie schön es war! Wie traurig es war!
Vorsichtig näherte er sich Namenlos. Vorsichtig strich er über die Pferdenase. Namenlos hob den Kopf, sah ihn mit seinen wundervoll dunklen Augen an und schnupperte ganz zart am Haarschopf des kleinen Jungen. Johannes musste weinen und wusste gar nicht warum. Da hörte er plötzlich Männerstimmen. Die Helfer des Schlachters waren gekommen, um ihre Arbeit zu tun.
Johannes rannte, er rannte so schnell er konnte nach Hause zu seinem Großvater. Er nahm ihn bei der Hand. Bitte komm schnell, komm ganz, ganz schnell! Sie dürfen es nicht töten! Sie dürfen es nicht töten! Sie dürfen es nicht töten!
Der alte Mann ließ sich von dem kleinen Jungen zum Schlachthaus ziehen, und als er das weiße Pferd sah, da erschrak er auch. Nein, das dürfen sie nicht töten, sagte er. Und obwohl er nicht viel besaß, bot er dem Schlachter ein halbes Stückchen Silber für das weiße Pferd an. Mehr habe ich leider nicht.
Der Schlachter war nicht gefühllos. Er hatte Mitleid mit Namenlos, und den kleinen Johannes mochte er gern. Außerdem hatte er das Pferd ja umsonst bekommen … So war er mit dem Preis einverstanden.
Namenlos‘ neues Zuhause
In einem Schuppen hinter dem Haus richteten der Großvater und Johannes für Namenlos einen Platz her. Mit knietiefem Stroh, duftendem Heu und frischem Wasser. Jeden Morgen lief Johannes zu seinem Pferd und streichelte lange die weiche Nase, den weißen Hals. Die Nachmittage verbrachten sie in den Wiesen. Dann lag Johannes auf dem Bauch und schaute stundenlang seinem Pferd beim Grasen zu. Wie schön es war, wie weiß sein Fell, wie mächtig der Rücken, wie schmal die Fesseln, wie sanft die Augen.
Der Ritt
Eines Tages stellte sich Johannes auf das Gartenmäuerchen, griff in die Mähne seines Pferdes und zog sich auf den Rücken hinauf. Da saß er nun, verwundert über diese Höhe. Er hatte ja nie zuvor auf einem Pferd gesessen. Wie gerne würde ich jetzt das Land kennenlernen, dachte er. Und die Berge. Und die Täler. Als hätte Namenlos seinen Wunsch verstanden, setzte er vorsichtig einen Huf vor den anderen. Vorsichtig begann er zu traben, zu galoppieren. Schneller, immer schneller.
Johannes jauchzte vor Freude. Wie das Land unter ihm dahinflog. Kaum berührten die Hufe die Erde, kaum bewegte sich der mächtige Rücken … In einer einzigen mühelosen Bewegung flogen die beiden über das Land.
Ja, alles zeigte Namenlos dem kleinen Johannes. Freiwillig. Er zeigt ihm die Maisfelder, das Dorf am anderen Ende der Ebene, die Hügelkette, fremde Flüsse. Er sprang mit ihm über Mauern und Zäune, und beide hatten sie große, große Freude daran.
Die Leute aber konnten es nicht fassen. Alle standen sie jetzt da und staunten: der König, die Hofdiener, Targo und Turgo, Tanha, die Zirkusleute, die Marktfrauen, die Kinder … Sie staunten über dieses Wunder: ein fröhliches, gehorsames Pferd mit seinem winzigen Reiter.