Schuhe mit Riemchen
Es war schon spät, als sie die Gastwirtschaft betrat.
Niemand hatte sie je in dieser Gegend gesehen. Rotes Seidenkleid mit Goldfäden, Täschchen aus Lack, Schuhe mit Riemchen, runde Kinderaugen, Kirschmund und eine helle Locke in der Stirn.
Draußen lag der erste Schnee. Gleich wird sie abgeholt, dachte Kolb. Mädchen wie die werden immer abgeholt. Um Mitternacht saß sie immer noch, da standen schon die ersten Stühle auf den Tischen und die Gläser waren eingesammelt.
Kann ich hier ein Zimmer mieten? Ihre Stimme war leise.
Toni, der Wirt war ratlos, er hatte keine Zimmer zu vermieten, und im Dorf waren schon alle Lichter gelöscht. Der Kolb stand langsam von seinem Stuhl auf. Bewegungen eines Bären. So langsam. Sie reichte ihm gerade bis zur Brust.
Sie können bei mir übernachten. Ich habe eine Küche, da können sie übernachten.
Da brennt der Herd, und eine Liege steht da auch.
Der Kolb sprach langsam. Sie bestand darauf, die Küche für eine Nacht mieten zu dürfen. Das Lippenrot war schon ein wenig verschmiert.
Drei Tage und drei Nächte hat sie dort gelegen und hat sich nicht gerührt. Auch dann nicht, wenn Kolb am Herd stand und etwas kochte, wenn er hinaus ist, das Vieh zu versorgen, oder wenn der Hund an der Tür kratzte, weil er hineinwollte.
Am vierten Tag ist sie aufgestanden und ist lange im Bad geblieben. Dann stand sie mit rotem Seidenkleid in der Tür, Schuhe mit Riemchen und der einen Locke in der Stirn. Nur die Lippen hatten keine Farbe. Sie zog fünfzig Euro aus ihrer Handtasche, legte sie auf den Tisch. Er schob den Schein mit einer sehr langsamen Bewegung zurück in ihre Tasche.
Danke, hat sie gesagt und ist hinaus, so, dass Kolb dachte, sie wüsste wohin. Im Hof ist sie stehen geblieben. Zwischen den Pfützen. Mit offenen Schuhen. Der Kolb hat in der Tür gewartet, lange. Dann ist er zu ihr gegangen.
Wollen Sie hierbleiben? Er stand ganz dicht hinter ihr. Sie hat sich nicht umgedreht, sie hat nur mit dem Kopf genickt.
Ich heiße Kolb, hat er gesagt,
Ernst. Ernst Kolb.
Eva. Ich heiße Eva. Eva Strasser.
Kolb hat ihr zwei Kleider von seiner Schwester besorgt, vier Unterhosen, dicke, braune Socken und zwei Paar Schuhe, ein Paar für den Stall und ein Paar für das Gute. Das rote Kleid haben sie gemeinsam in den Schrank gehängt, die Schuhe mit Riemchen und das Täschchen aus Lack. Tagsüber saß sie gerne am Fenster. Manchmal ging jemand die Straße entlang, dann war sie wieder leer.
Nach ein paar Wochen schaute sie öfter dem Kolb bei der Arbeit zu. So konnte sie, ohne sich zu rühren, Stunde um Stunde auf die Holzscheite starren, die unter der Wucht der Axt zerbarsten. Zur Melkzeit stand sie auf der Stallgasse und schaute gebannt auf den stets wiederkehrenden Rhythmus der Saugnäpfe.
Selten gab Kolb ihr etwas zu halten. Eine Mistgabel, einen leeren Eimer, eine Schaufel.
Abends saßen sie gemeinsam in der Küche. Eva hatte angefangen zu häkeln, einfache Dinge, Schals oder kleine Mützen. Die verschenkte sie gerne an die Leute im Dorf. Man hatte sich daran gewöhnt, dass niemand wusste, wer sie war und woher sie kam. Nachts schlief sie in dem Zimmer neben dem seinen. Es war gut, wenn er seine Tür offenstehen ließ, dann hatte sie keine Angst vor den Gespenstern. Einmal nur in all den Monaten ist sie zu ihm unter die Decke gekommen und hat sich gewärmt. Er hat ganz stillgehalten und sich kaum getraut zu atmen, dann hat er seine großen breiten Arme um sie gelegt und sie vorsichtig an sich gedrückt. Das hat ihr gut getan.
Manchmal ging sie mit Kolb in die Gastwirtschaft, dann saß sie Stunden neben ihm und wartete, bis er seine drei Maß Bier getrunken und seine Geschichten erzählt hatte. Später, wenn sie heimgingen, hat er darauf geachtet, dass er nicht wankte. Er wollte sie nicht erschrecken.
Im März wurden die Tore geöffnet, hohe und niedere, schmale und breite Scheunentore. Vorbei die Zeit der kurzen Wege zwischen Küche und Stall. Vorbei die Winterabende vor dem Herdfeuer. Jetzt rief der Acker. Eva hat neben ihm gesessen auf dem Traktor. In langen Reihen sind sie auf und abgefahren. Manchmal, wenn die Erde vom Regen schwer war, blieben die Reifen in den Schollen stecken. Dann brauchte Kolb all seine Geschicklichkeit, um sie wieder aus dem Boden herauszudrehen. Sie hat ihm gerne dabei zugeschaut, er war so stark.
Im Spätsommer des gleichen Jahres war sie es, die den Kaninchen frisches Futter gab, von den Hühnern die Eier einsammelte. Jetzt konnte sie sogar schon hin und wieder die Stallgasse fegen. Eines Abends hat sie Kolb dabei überrascht, wie sie eine volle Karre Mist über den Hof schob, um sie auszuladen. Da hat er ihr ganz froh über die Schulter gestreichelt.
Hier endet die Geschichte. Ich habe sie in einem Wartesaal gefunden. Unter einer Bank. Mit kleiner Schrift geschrieben. Ich hätte gerne erfahren, wie die Geschichte weiterging. Aber der Wartsaal war leer. Und der Bahnhof auch. Darum habe ich sie mitgenommen.