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Die Fremde

Was ich dir jetzt schreibe, ist so wahr, wie das Bett, auf dem ich liege, der Baum vor meinem Fenster, die Wärme der letzten Sonnenstrahlen an diesem frühen Herbstnachmittag.

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Die Fremde: Bild

Eliza

Im Sommer gibt es schon ab zwölf Uhr keinen freien Tisch mehr.
Anders in den Winterzeiten,
wenn der Kamin brennt,
und die Kellner Zeit genug haben,
sich mit den wenigen Gästen zu unterhalten.


Hier saß ich oft. An dem kleinen Tische links in der Ecke. Von dort hatte ich einen Überblick über das Lokal. Manchmal kam Eliza dazu. Mit Ismene, ihrer Tochter.


Wenn Eliza das Lokal betrat, verstummten alle Gespräche.
Ich weiß nicht, ob sie das wollte, oder ob es ihr nur passierte. Es war unmöglich, sie nicht zu bemerken. Der Raum um sie schwirrte. Eliza redete und redete, lachte und redete. Obwohl sie nie etwas Wesentliches sagte, hörte ich ihr gerne zu.
Ismene saß still und geduldig neben ihr.


Nur wenn das Thema auf Antigone kam, wurde sie wütend.
Das Thema Antigone schien für sie ein nicht endendes Ärgernis.  


Schon als Kind sei sie unerträglich gewesen, fügte sich nirgendwo ein. Tat nur was sie wollte.

So erzählte sie.

Jedes Fest hätte sie ihnen verdorben.
Hätte nur dagesessen und geschwiegen. 

Das Geld, das sie von ihrer Mutter bekam, um sich eine Existenz aufzubauen, hätte sie in Tierheimen abgegeben. 

Dass sie ihre Mutter Eliza immer und immer wieder zum Weinen gebracht hätte - das sei ihr gleichgültig.


So oder so ähnlich redete Ismene, wenn das Thema auf Antigone kam.

Die Fremde: Text

Der Umschlag

Elizas Tod kam plötzlich.


Nichts war geregelt,

es gab kein Testament.

Es gab weder einen Platz für ihr Grab,

noch eine Liste, wer im Falle ihres Todes benachrichtigt werden solle,

noch eine von ihr gewünschte Zeremonie,

noch einen Wunsch für eine Grabinschrift,

noch einen Überblick über ihre Bankverbindungen,

noch war geklärt, wie die Möbel, das Silber, die Juwelen, die Bilder, die Skulpturen zwischen ihren Töchtern aufgeteilt werden sollten.


Ismene versuchte, Antigone zu finden. Die Adresse, die sie kannte, gab es nicht. Eine andere hatte sie nicht.


Ismene war verzweifelt.

Sie wollte kein Haus voller Kostbarkeiten.


Verkaufen! Ich werde alles verkaufen. Jeder Gegenstand würde mich ständig an sie erinnern.


Sie bat mich um Hilfe.


Der Speicher, wir müssen den Speicher leeren!


Es gab nur eine Stelle, an der man aufrecht stehen konnte.

Im übrigen Raum musste man sich kniend oder auf allen Vieren bewegen.


In den Kisten unsortiert lagen Zeitungen, Kinderspielzeug, Weihnachtsdekoration, Bilder, Bücher, Mäntel. Kaum ein Durchkommen.


Wir stellten große Kartons auf. Getrennt nach Papier, Stoffen, Unverwertbarem. Drei große Kartons.


Sie konnte nichts wegwerfen. Sie hat den Krieg noch erlebt. Mehr sagte Ismene nicht. Aber peinlich war es ihr.


Eine Kiste stand abseits.

Ein Kleid lag obenauf. Ich hatte es vor nicht langer Zeit an Eliza gesehen.

Unter dem Kleid - ein dicker Briefumschlag. Geschlossen. Die Adresse sorgsam mit langgezogenen Buchstaben geschrieben. Kein Absender.


Der Umschlag – warum warf ich ihn nicht einfach in den Karton fürs Papier?


Ich steckte ihn in meine Tasche. Ohne zu überlegen.

Die Fremde: Text

Der Brief

Es war einer jener Herbstabende, in denen die Luft nach feuchten Blättern riecht, nach verbranntem Holz und jeder froh ist, einen warmen Platz gefunden zu haben.


Was veranlasste mich, den Umschlag zu öffnen? Ich war doch müde.


Ein Bild rutschte heraus. Eine Frau in blauem Gewand. Um die Taille ein Gürtel aus lauter Fäden. An den Füßen trug sie Sandalen.


Schon die ersten Zeilen zogen mich in einen Bann.

Die Fremde: Text

Mama!

Was ich dir jetzt schreibe, ist so wahr, wie das Bett, auf dem ich liege, der Baum vor meinem Fenster, die Wärme der letzten Sonnenstrahlen an diesem frühen Herbstnachmittag.


… Ich wollte eine gute Tochter sein. Glattes Haar, schön gekleidet, beste Manieren, fleißig, erfolgreich, beliebt, gelobt. Eine, wie meine Schwester. Eine, um die du dir keine Sorgen hättest machen müssen. Ich hätte gerne eine glückliche Ehe geführt, drei schöne Kinder geboren, die dir Gänseblümchen im Frühling gebracht hätten, und Tannenzapfen im Herbst.

Eine, auf die du hättest stolz sein können, die du deinen Freunden hättest zeigen können und sagen: Seht, das ist meine Tochter Antigone.


Es kam anders. Ich war eine Fremde. Schokolade, Gummibärchen, Lakritzschnecken, Salmiakpastillen –

nichts konnte darüber hinwegtäuschen.

Nicht die Käthe Kruse Puppe mit den echten Haaren, die Kuschelecke, die du für uns eingerichtet hast, meine Kinderkleider aus der Bloutique Parisienne, die Lackschuhe mit Bündchen, die Schleifen im Haar.


Ich hätte nie gelacht. Hast du gesagt. Nur einmal: Am Straßenrand stand ein Brauereiwagen, davor zwei dicke Pferde. Ich sei geradewegs unter eines der Tiere gelaufen, hätte den Bauch gestreichelt und immer wieder gerufen und gelacht: Ei, ei, ei. Ganz ruhig hätte das Tier gestanden, und dir sei der Schweiß die Stirn heruntergelaufen.

Das hast du mir erzählt.


Undankbar sei ich. Nichts würde mich froh machen. Egal, was du tun würdest. Aber das stimmte nicht.

Ich war dankbar. Ich war dankbar für das Rascheln der Blätter im Herbst, wenn ich sie mit meinen Schuhen vor mir herschob. Ich war dankbar für den Kirschbaum, wenn er im Frühjahr vor unserem Fenster blühte, weiß. Ich war dankbar für den Anblick der Wolken, wenn der Wind sie vor sich hertrieb, ich war dankbar für die Stunden, in denen ich alleine spielen durfte.


Wo war ich, bevor ich war?

Werde ich je sterben?

Oder nie?

Gibt es Jahreszeiten im Himmel?

Das waren die Fragen.


Träumen die Bäume nachts?

Wo sind die Farben, wenn es dunkel ist?

Warum ist Ismene schöner als ich?

Warum lebt der Vater in einer anderen Stadt?


So begannen meine Studien im Alter von vier Jahren.

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Schule

Meine Studien wurden jäh unterbrochen, als ich in die Schule kam. Vor uns stand Herr Otto, rotes Haar, weiße Wimpern, schmale Lippen. Was ich lernen sollte, wollte ich nicht wissen. Was ich wissen wollte, konnte ich niemanden fragen. So waren meine Noten die schlechtesten. Schule von Anbeginn an eine Frage der Unterwerfung.


Den größten Teil des Jahres verbrachte ich im Bett. Mal mit Grippe, mal mit Angina. Krank war ich vor Herrn Otto sicher. Stieg das Fieber, veränderten sich die Gegenstände im Raum, wurden riesengroß, dann wieder winzig klein. Der Kinderarzt ging ein und aus, gab mir Spritzen mit dicken Nadeln, mal Bitteres, mal Saures zum Schlucken. Nichts gegen die Angst vor Herrn Otto und seinen Noten.


Meistens warst du unterwegs. So blieben wir mit dem Kindermädchen zurück.


Unsere Mutter macht Filme, sagten wir, wenn uns jemand fragte. Sie ist ein Star, eine berühmte Schauspielerin.

Viele beneideten uns.


Jedes Mal, wenn du wieder deine Koffer packtest, warst du eilig. Ich erinnere mich an deinen Geruch, Rose und Jasmin, an dein Lachen. Ich erinnere mich an das Geräusch deiner Kleider, wenn die Stoffe aneinander rieben. Ich erinnere mich an den Schlag deiner Absätze auf den Steinböden, wenn du eilig warst. Du warst immer in Eile, solange ich mich zurückerinnern kann. Alles an dir war eilig. Alles war wichtig. Und die Luft um dich brannte.

Wenn du in den Wagen stiegst, winktest du zu uns hinauf. Ismene winkte zurück. Ich zog den Mund in die Breite. So konntest du denken, dass ich lachte. Aber ich lachte nicht. Ich hing an dir.


Ich hätte dir sagen sollen, wie sehr ich dich vermisste,

deine Nähe,

dein Lachen,

deinen Geruch,

deine schöne Haut,

deine grünen Augen.

Wenn du mit uns gesungen hast, wenn du uns vorgelesen hast. Aber ich sagte nichts.

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Prinz

Einmal im Jahr, im Sommer, bist du mit uns verreist.

Erinnerst du dich? Juist?

Ihr habt die Tage im Strandkorb verbracht. Ich war nie bei euch. Neben unserem Hotel gab es einen Reitstall. Dort war ich alle Stunden. Einmal am Tag durfte ich reiten. Du hast mir eine Zehnerkarte gekauft. An der Longe reiten. Zehnmal im Kreis.

Das Glück konnte nicht größer sein.

Beim zehnten Mal wollte ich die Zügel selber halten.


Nein! Ein Pferd, das kannst du nicht halten. Später vielleicht. Wenn du eine Reiterin geworden bist.

Ein Jahr später zogen wir um. Im Ort ein Bäcker, ein Lebensmittelgeschäft und der Hof von Karl. Viereckig, der Eingang ein Tor.

Da kaufte man Milch und Eier.

Karl hatte außer Kühen und Hühnern auch Enten, Katzen – und ein Pferd. An eine Kette gebunden.

Verklebtes Fell, breite Hufe, große Ohren. Er stand auf altem Mist, der Mist brannte in den Augen.

Schubkarre um Schubkarre fuhr ich hinaus.

Ich bürstete sein Fell, kämmte Schweif und Mähne, kratzte seine Hufe aus, band ihn von der Kette los.

Hinter dem Hof gab es Grünes. In der Zeit, in der Ismene ihre Hausaufgaben machte, saß ich auf einer Wiese und schaute Prinz beim Grasen zu.


Eines Tages holte Karl einen Sattel aus der Futterkammer, legte ihn Prinz auf den Rücken, zog den Gurt an, kürzte die Steigbügel, hielt mir eine schmutzige Hand entgegen.


Aufsteigen!


Er drückte mir Lederriemen in die Hände, hart geworden durch Regen und Sonne.


Reit! Bleib nicht zu lange weg! Mehr sagte er nicht.


Die ersten Meter zitterte ich so, dass ich kaum die Zügel halten konnte, die Zähne schlugen aufeinander. Ich ritt durch das Tor. Die Straßen entlang, hinaus in die Felder.

Karl hat mir Großes zugetraut.


An diesem Tag bin ich eine Reiterin geworden. Ohne Longe, ohne Lehrer. Drei Jahre lang durfte ich mit Prinz über Stoppelfelder galoppieren, mit ihm am Halfter spazieren gehen, ihn an Wiesenrändern grasen lassen.

Die Fremde: Text

Wo im Winter die Kamelien blühen

Du hättest für uns eine Überraschung, sagtest du eines Tages. Wir waren neugierig.

Wir ziehen um. Dahin, wo im Februar die Kamelien blühen. Ismene freute sich. Ich nicht.


Prinz! Beide Arme um seinen Hals geschlungen, grub ich mein Gesicht in sein Fell, weinte laut und versprach ihm, ihn zu besuchen. Ganz still hielt er. Ich habe ihn nie wiedergesehen.


Von meinem neuen Kinderzimmer aus, ein Ausblick auf ein Märchenland.

Ismene lobte dich täglich für unser neues Zuhause.

Schöner kann es nicht sein, sagte sie, wieder und wieder.


Ich hätte dir sagen sollen, dass ich mein Pferd vermisse, die weiche Nase, den Atem, Ritte über die Felder. Dass mir blühende Kamelien im Februar egal sind, auch der Anblick einer Märchenlandschaft, wenn niemand sich um mein Pferd kümmerte, niemand ihn von der Kette losband, niemand. Das hätte ich dir sagen sollen. Aber ich sagte nichts.


Ismene lernte die Sprache leicht und schnell. Ich konnte mir die Worte nicht merken. Unterricht in Italienisch, unmöglich. Ich musste die Klasse wiederholen, zweimal hintereinander. Die gleiche Klasse.

Die Mädchen, die Jungen rechts und links von mir wurden immer kleiner. Ich kam mir vor wie eine Riesin. Eine dumme Riesin.

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Das letzte Mal

Es war Mittag, du hattest gekocht.

Ich kam nach Hause, stellte den Ranzen ab.


Heute war ich das letzte Mal in der Schule!


Du hast dich auf einen Stuhl gesetzt, mich angeschaut, ruhig, streng, ernst.


Mein kleines Mädchen, hast du gesagt, was willst Du einmal werden?


Nichts!


Nichts - gibt es nicht. Also: Lehrerin, Ärztin, Juristin, Schauspielerin?


Ich will wissen, wieso ich geboren bin. Ich will wissen, warum ich das nicht weiß. Ich will wissen, woher die Sterne ihr Licht haben. Und wer die Erde dreht.


Das sind Fragen für die Freizeit. Oder wenn man genug Geld hat.


Solange ich nicht weiß, was das alles hier bedeutet, will ich keinen Beruf.


Du warst ratlos.


Karriere? Ruhm? Geld? Ein schönes Haus, ein schnelles Auto, ein eigenes Pferd, berühmte Freunde …


Will ich nicht. Nein!


Ismene beendete die Schule mit besten Noten. Ich blieb zu Hause, las. Böhme, Nietzsche, Eckehart. Die Bücher zerlesen neben meinem Bett.

Manchmal fuhr ich in eines der Täler. Dort fühlte ich mich zu Hause, saß auf den Steinen, schaute an den Hängen hinauf, hörte dem Wasser zu.


Es war die Zeit deiner großen Erfolge, die Zeit der Menschen, die sich um dich scharten, denen kein Weg zu weit war, dir, dem Star zu begegnen, es war die Zeit der Göttin der Leinwand, dein Name, der die Gazetten füllte, die Mächtigen dir zu Füßen lagen.

Wenn ich aufstand, schliefst du noch. Wenn ich schlafen ging, hast du das Haus verlassen, überall eingeladen, überall gefeiert.

Unsere Leben waren unterschiedlich.


Deine Freunde fragten.


Und - was studieren deine Töchter?


Ismene studiert Innenarchitektur. Sie wird nach dem Studium nach Paris gehen.


Und Antigone?


Liest.


Kein Schulabschluss, keine Ausbildung, nur lesen? Was soll aus ihr werden?


Arme Mama. Was hättest du gerne geantwortet?

Meine Tochter Antigone wird Ärztin, oder: Meine Tochter Antigone wird Anwältin, oder: Meine Tochter Antigone besucht eine Schauspielschule und wird an der Wiener Burg … oder: Meine Tochter ist mit einem phantastischen Arzt verheiratet. Im Frühjahr erwartet sie ihr erstes Kind! Wären das nicht gute Antworten gewesen?


Ich hörte eure Gespräche. Ismene und du, ihr habt es nicht bemerkt.


Sie tut nur, was sie will, sie kümmert sich um nichts, sie kommt, wann sie will, sie geht, wann sie will. Es war nie anders. So ist sie, so war sie, so wird sie bleiben. Unzuverlässig, eigenwillig, kein Plan. Lässt sich durchfüttern. Niemand versteht sie. Gehört sie zu uns?


Ich beschloss, dich von mir zu befreien.

Die Fremde: Text

Fred

Freundlich, Arzt, geschieden, zwanzig Jahre älter als ich. Blaue Augen, blondes Haar. Haus mit Garten.

Er erzählte von der Untreue seiner Frau, seiner Unschuld am Scheitern der Ehe. Er erzählte von seiner Schwester Traute, der Untreue ihres Ehemanns. Ebenfalls unschuldig am Scheitern ihrer Ehe. Seine Frau hatte ein Verhältnis mit dem Mann seiner Schwester. Ein Skandal. Und eine Doppelscheidung.

Er erzählte von dem Ausflugslokal der Eltern am Kanal. Von den Gästen, die bei Kaffee und Kuchen zuschauen konnten, wie die großen Schiffe vor dem Fenster vorbeifuhren Richtung Meer.


Zum Standesamt kamst du mit roten Rosen. Tränen in den Augen.


Ich zog in ein Haus mit Garten. Weit genug weg von Ismene und dir. Wohnzimmer mit Ledersofa. Perserteppiche, Schrankwände, Weinkeller gefüllt, Hollywoodschaukel im Garten, Terrasse Südwest, Steingarten.


Ein Mann, dem es wichtig war, dass die Räume aufgeräumt waren, ein Essen auf dem Tisch stand, wenn er nach Hause kam. Der Samstagabend mit mir in die Schellfischbar ging, ein Abonnement hatte für das Thalia Theater, im Sommer mit mir an die Ostsee fahren wollte, am Wochenende zu seinen Eltern nach Dithmarschen. In das Haus am Kanal. Vor dem Fenster fuhren große Schiffe vorbei, Richtung Ostsee. 


Für mich Nerzjacke, Taschen von Gucci, Armbänder mit Smaragden, breite Goldreifen um den Hals, ein eigener Sportwagen, neu. Porsche.

Ein Jahr lang kümmerte ich mich um den Haushalt. Einkaufen, kochen nach Rezept, am Abend warten, bis er heimkam.

Sonntagmorgen Kaffee mit Milch und Honig im Bett, warme Croissants, selbstgekochte Marmeladen seiner Mutter.

Eckehart, Böhme, St. Martin eingepackt.


Wann immer du in der Nähe warst, kamst du uns besuchen. Beruhigt, einen solchen Schwiegersohn zu haben.


Ein Jahr später - starren auf das Blümchenmuster der Küchengardinen.


Ob ich traurig sei, wollte er wissen.


Traurig? Nein! Ich bin nicht traurig, ich bin gar nichts.

Er meldete mich bei einem Kollegen an. Psychiatrie/Neurologie.

Diagnose: Depression.

Depression? Kein Problem.

Depression ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn. So der Arzt.

Zuckerkranke nehmen Insulin. Depressive Antidepressiva.


Ich war froh. Endlich hatte ich eine Erklärung für meine Traurigkeit: Ich bin krank.


Die Medikamente änderten nichts, der Kollege riet zu einer Schlafkur.


Schlafen, sagte er, eine Woche, das wird Ihnen guttun.

So sprach er zu mir.


Als ich nach einer Woche wieder aufstehen sollte, war das Bett zu hoch.

Du kamst mich besuchen.

Ich falle, sagte ich.


Wie das? - Du liegst doch ganz ruhig.


Wie sollte ich es dir erklären? Wie man fallen kann und zur gleichen Zeit ganz ruhig daliegen. Sturz abwärts. Immer abwärts. Fallen – und ganz ruhig liegen …


Seltener wurden deine Besuche, kürzer. Du hattest Angst vor mir - mir, der Ängstlichen.


Nachdem ich die Klinik verlassen hatte, war alles anders. Die Straßen, die Häuser, die Mauern, die Leute. Wollte ich unser Haus verlassen, kehrte ich schon nach wenigen Schritten um.

Angst

– zu

fallen.


Die Häuser, die Häuser sind zu hoch, jeden Tag höher.

Und - warum sind die Straßen so lang? Die Bordsteine so steil?


Schloss sich eine Tür hinter mir, trat mir der Schweiß auf die Stirn, egal welche Tür es war. Ladentür, Fahrstuhltür, Bustür, Zugtür. Einmal wollte Fred mit mir nach München fliegen.


Ja, bist du wahnsinnig geworden? Was, wenn sich die Flugzeugtür schließt?


Wirklich, das Leben war unerträglich geworden. Es gab nur zwei Wege. Die Brücke hinunter springen. Oder den Kampf aufnehmen.

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Der Schäfer

Nicht weit von unserem Haus entfernt, gab es einen Waldweg. Der Weg, meine Teststrecke. Jeden Tag ein Stückchen weiter gehen. An diesem Tag hatte ich mehr Mut. Der Weg endete an einer Lichtung. Bis dahin war ich nie gekommen. Eine Herde Schafe weidete dort. Am Rand der Lichtung saß ein Mann mit breitem Hut. Neben ihm ein Hund.

Ich wusste nicht, ob ich näherkommen durfte, blieb stehen.

Der Mann schaute auf, lächelte. Ich setzte mich neben ihn.


Die Sonne hatte den Boden gewärmt, es roch nach Frühling.

Der Mann neben mir schwieg. Während ich den Halmen vor meinen Schuhen zuschaute, geschah etwas, was sich kaum beschreiben lässt. Die Halme lösten sich auf, lösten sich aus der Form, das Grün begann zu fließen. Winzige Teilchen bewegten sich. Ineinander. Auseinander. Nicht nur das Gras, der Strauch neben mir, die Zweige, Blätter lösten sich aus den Formen. Ein Meer von Grün und Braun und Teilchen, die sich miteinander bewegten.

Was, wenn die Entfernung zwischen den Teilchen sich dehnen würde, würde dann der Blick frei in einen anderen Raum? In einen Raum dahinter?

So einfach, wie die Formen sich aufgelöst hatten, so zogen sie sich wieder zusammen. Zusammengeschoben zu Gräsern, Zweigen, Blättern. Was verband sie miteinander? Was trennte sie voneinander?


Ich stand auf. Der Schäfer schaute mich an. Hatte er das gleiche gesehen?


Emil, sagte er, ich heiße Emil.


Antigone, sagte ich, ich heiße Antigone.

Danke, sagte ich.

Er lachte mich an.


Ich lief den Weg zurück. Nein, ich hatte keine Angst mehr.

Die Fremde: Text

Flucht

Zurück im Haus, holte ich meine Koffer aus dem Keller. Den Karton mit den zerlesenen Büchern.

Hinter mir stand mein Mann.


Was hast du vor?


Ich trenne mich von dir.


Und wieso?


Was hätte ich ihm sagen sollen?


Vielleicht, dass ich Schiffen nicht mehr vom Kaffeetisch aus zuschauen will.

Vielleicht, dass ich das Leben nicht vom Parkett aus verstehen will.

Vielleicht, dass ich keinen Cocktail mehr in der Schellfischbar brauche, um den Tag zu vergessen.

Vielleicht, dass ich keine Abende mehr vor dem Fernseher verbringen will, um mich abzulenken von meiner Verzweiflung.

Vielleicht, dass die Ostsee wunderbar ist, aber nicht vom Strandkorb aus.

Vielleicht, dass ich das Leben zu wichtig finde, um es in Sicherheit zu verbringen. Nicht am zweiten Dezember wissen will, wo ich am dreiundzwanzigsten Juni sein werde.

Vielleicht, dass ich nicht hineinpasse in sein geregeltes Leben, vorsortiert, aufgeräumt.


Und was davon hätte er verstanden?

Die Fremde: Text

Ich hätte dir sagen sollen

dass ich es versucht habe. Dass ich versucht habe, mich einzubürgern. Dass mir ein Leben in Sicherheit nichts bedeutet. Dass ich Blümchengardinen in der Küche nicht aushalte, es nicht ertrage, jeden Sonntagmorgen im Bett Kaffee mit Milch und Honig zu trinken, dazu aufgewärmte Croissants mit selbstgemachten Marmeladen von Freds Mutter.


Ich hätte dir danken sollen für all die Jahre, die du versucht hast, aus mir einen tauglichen Menschen zu machen.

Ich hätte dich trösten sollen. Dir versichern, dass du keine Angst um mich haben musst.

Das hätte ich dir sagen sollen. Aber ich sagte nichts.

Die Fremde: Text

Straßenmädchen

An diesem Tag endete mein beschütztes Leben, Abende vor dem Fernseher, Theaterbesuche, Friseurtermine, Wochenenden in Dithmarschen, Ferien an der Ostsee. So fuhr ich ab. In meinem weißen Porsche.
Mein Ziel: Rom.
Am Morgen nicht wissen, wo man am Abend sein würde.


Ich schlief mal hier, mal dort. Begegnete Menschen, die ich nie kennengelernt hätte, wenn ich nicht geflüchtet wäre.
Menschen, die mir ihre Geschichten erzählten, denen ich meine Geschichte erzählte. Sie konnten zuhören. Ich hörte ihnen zu.
Sie teilten ihr Brot mit mir, Wein, Bier.
Ich schlief mal hier, mal dort. Auf ausgezogenen Sofas, geliehenen Matratzen, in Nebenzimmern.


Der weiße Porsche stand Straßen weiter. Ich hätte mich geschämt.

Die Fremde: Text

Nuccio

Er saß in der Morgensonne, auf einer der zahlreichen Bänke im Park der Villa Borghese. Ein junger Mann mit wildem Haar, sanften Augen, zerrissenen Jeans.


Und? Warum bist du nicht in einem Büro?


Er lachte, fragte zurück.


Warum bist du nicht in einem Büro?


Halt ich nicht aus.


Dann sind wir schon zu zweit.


Und wo wohnst du?


Auf diversen Sofas.


Und du?


In der Wohnung meiner Eltern. Haben sie gekauft. Für ihr Alter. Bis dahin kann ich bleiben. Dauert noch. Kannst ja mitkommen.


Einfach so?


Einfach so.


Nuccios Wohnung bestand aus zwei Räumen.

Das Zimmer, das er bewohnte: Bett, Tisch, drei Stühle, Küchenzeile. Kein Schrank, keine Regale. Auf dem Boden Tassen, Teller, Gläser, Besteck, Töpfe, Hosen, Pullover, Mäntel, Schuhe.

Das zweite Zimmer war fast leer. Metallbett, Schrank.


Hier kannst du bleiben. Sagte er.


Die Miete?


Kannst du Kaffee kochen? Morgens um Sieben? Das wäre die Miete.

Die Fremde: Text

Unser Leben

Müde vom Leben in Durchgangsräumen zog ich ein.

Unser Leben war einfach. Tage verbrachte ich lesend auf meinem Bett. Oder in einem der zahlreichen Cinemas d'essai.

Kleine Kinos, die zuweilen auch ein Laken als Leinwand nahmen. Schiefe Stühle. Die Filme alt, flimmernd, unscharfe Bilder oft. Großartig. Eisenstein, Pudovkin, Dreyer.

Durch Eisensteins Kamera hätte ich wohl keine Straße wiedererkannt. Selbst, wenn ich darin gewohnt hätte. Sein Blick auf die Welt veränderte jedes Haus.


Nuccio arbeitete mal hier mal dort als Kameramann.

Abends saßen wir auf dem Boden zwischen Tellern, Tassen, Hosen, Socken. Meist hatte er eine Flasche Wein mitgebracht. Und Baguette. Und Käse.


Wir sprachen über politische Weltbilder. Früher sei er überzeugter Kommunist gewesen. Heute sei er überzeugter Anarchist. Und dabei würde er bleiben.


Du kamst uns besuchen, ich erinnere mich genau an den Tag.

Als du die Küche betreten hast, hast du aufgeschrien.


Antigone! Wie kann ein Mensch so stürzen?

Wozu habe ich dir jemals etwas beigebracht, einen Lebensstil, eine Form? Damit du jetzt mit einem Penner lebst? In einer Küche sitzt, in der es nach Müll stinkt, und du es nicht einmal bemerkst?


Du hast dich umgedreht, bist weinend die Treppe hinuntergerannt. Ich bin dir nicht hinterhergelaufen, ich blieb stehen zwischen Tellern und Tassen und Hosen und Hemden.

Traurig.

Ich hätte dir sagen sollen,

dass du keine Sorge um mich haben musst, dass das Leben neben Nuccio wunderbar ist, dass die Unordnung, die du gesehen hast, nichts bedeutet. Sein großzügiges Wesen, die Ruhe, die ich neben ihm habe. Er mich zu nichts drängt, mir Zeit lässt. Mich irren lässt. Mich mit guten Ratschlägen verschont.


Aber ich habe dir nichts gesagt.

Die Fremde: Text

Lieder für die Toten

Einen Abend kam er nach Hause, legte eine Karte auf den Tisch.


Einladung.

Lieder für die Toten.

Dienstag, 20 Uhr.

Viale Tito Livio.

Herzlichst. Giorgio


Drei Monate war ich schon hier und nie hat er diesen Namen erwähnt.

Lieder für wen? Und wer ist Giorgio?


Mein Freund. Er hat den Verstand verloren. Er denkt, dass Tote Ohren haben. Dass es Sprachen im Jenseits gibt, dass es Völker im Jenseits gibt. Ansonsten ist er normal, freundlich, bescheiden. Seit sieben Jahren macht er Musik für die Toten. Lieder aus aller Welt. Volkslieder.

Er behauptet, es sei nicht egal, in welcher Sprache man singt. Die Franzosen würden anders reagieren als die Deutschen.


Er selber, Nuccio, glaube zwar an Engel, aber nicht an verschiedene Reiche im Jenseits.


Ich hätte gerne mehr über die Abende gewusst, aber Nuccio konnte mir wenig mehr darüber erzählen.

Ich wollte Giorgio kennenlernen.


Würde ich endlich Antworten finden auf die Fragen meiner Kindheit?

Die Fremde: Text

Laura

Im Treppenhaus Geruch nach Veilchen. In der Wohnungstür stand ein Mann, graues Haar, kurzgeschnitten, hager, Jeans, kariertes Hemd. Einer, der mir vertraut war, obwohl ich ihn nie gesehen hatte. Er wohnte in einer jener alten römischen Wohnungen, hohe Decken, Stuck, die Fensterläden halb geschlossen, ein Wohnzimmer, das aussah, als würde niemand hier wohnen. Eine Küche, die aussah, als würde niemand hier kochen.


Wir setzten uns, er mir gegenüber.

Ohne Umschweife fragte ich ihn.


… und wieso Tote Ohren haben. Und wieso es Sprachen im Jenseits gibt …


Er lehnte sich zurück, schaute durch halbgeschlossene Läden nach draußen. Während er redete, hatte ich den Eindruck, dass er mich vergessen hatte. Er redete. Aber nicht zu mir.


… wenn sie glücklich war, band sie ein weißes Band an die Antenne ihres Wagens, das flatterte im Wind, jeder konnte es sehen. Laura.

Heute vor sieben Jahren, 16. August, 23.00 Uhr. Das Telefon läutete. Eine fremde Stimme.

Es hätte einen Unfall gegeben. Ich möge dorthin kommen.

Von weitem sah ich blaues, flackerndes Licht. Auf der Straße ein Wagen auf dem Dach, ein Körper, Tuch darüber, ein weißes Band auf dem Asphalt.

Unter dem Tuch hervor ein Stückchen blauer Stoff. Ihr Lieblingskleid.


Die Beerdigung hatten andere organisiert, ich war unfähig. Mein Leben war zu Ende. Die Tage und Nächte nach der Beerdigung - kein Schmerz, keine Trauer, betäubt. Der Schmerz kam langsam. Stündlich, täglich mehr. Bis zum Wahnsinn. Ich schlug den Kopf gegen die Wand. Wieder, wieder. Der Schmerz im Kopf lenkte mich ab von dem Schmerz, der überall brannte.

Ich suchte den Pfarrer, der die Messe gehalten hatte.


Wo ich sie finden kann? Laura.

Er war zuversichtlich. Vergewisserte mir, dass ich sie wiedersehen würde. Nach dem Tod …

Ob es gerecht sei, fünfzig Jahre zu warten.

Er war nachsichtig. Fünfzig Jahre im Angesicht der Ewigkeit - keine Zeit.

Ob er eine Ahnung hätte, wie ich die Wand zwischen ihr und mir durchbrechen könnte, ich müsse unbedingt mit ihr sprechen. Der Pfarrer war nachsichtig.

Vertrauen Sie auf Gottes Weisheit und Güte! Gott weiß, was er tut.

Er begleitete mich zum Ausgang, wünschte mir alles Gute und verschwand.

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Die Wand

Zurück zu Hause wurde ich wütend. Wie sollte ich ohne sie weiterleben?

Zwischen uns eine Wand. Unsichtbar, untastbar, unhörbar, undurchdringbar!

Bin ich entmündigt?

Ein Idiot, der nichts zu sagen hat?

Wer hat diesen Plan gemacht?

Wer bestimmt ihn? 

Wer bestimmt mich?

Und – wieso kann ich mich nicht wehren?

Welche Macht steht dahinter?

Welcher Beschluss?

Welches Ziel, welcher Sinn?

Würde dieser Plan überhaupt existieren, wenn die Menschen sich jemals gewehrt hätten? Nein!


Ich beschloss, die Wand zu durchbrechen. Ich wollte mit Laura sprechen.


Man hatte mir von einem Medium erzählt. Bruno. Er könne das. Er könne diese Wand durchbrechen! Aber er würde nicht mehr arbeiten.

Er säße jeden Tag im Kaffee Greco. Man hatte ihn mir beschrieben. Ein kleiner Mann mit zotteligem Haar und Schlapphut, den er nie abnimmt.


Und so war es. Er saß in dem überfüllten Kaffeehaus und schlief. Als ich ihn fragte, ob der Platz neben ihm noch frei wäre, wachte er auf, schaute mich an, lachte.

Gut, dass Sie mich geweckt haben.


Ob er nicht eine Ausnahme machen könne, ich hätte gehört, dass er diese Arbeit nicht mehr macht. Sagte ihm, dass ich unbedingt mit meiner toten Frau sprechen müsse.


Nein, da könne er mir nicht weiterhelfen. Er hätte diese Arbeit beendet.


Er zog ein Buch aus seiner Jackentasche. Ohne mich weiter zu beachten, begann er zu lesen. Ich bestellte einen Kaffee und wartete ab.

Nach einer Viertelstunde steckte er das Buch zurück, legte eine Visitenkarte auf den Tisch.


Sie können mich besuchen. Dann sprechen wir.

Ohne ein weiteres Wort stand er auf. Und verließ das Café.

Die Fremde: Text

Chaos im Jenseits

Ich wartete nur einen Tag. Dann fuhr ich zu ihm.


Ob er nicht eine Ausnahme machen könnte. Die Wand durchbrechen, die mich von ihr trennt. Diese unheimliche Wand, die keinen Namen hat. Ich kann auch fünfzig Jahre warten, wenn ich noch einmal mit ihr sprechen könnte. Aber so …


Er sagte, er fände, dass das eine schlechte Idee sei.

Vergessen Sie Ihren Plan, sagte er. Lassen Sie die Wand Wand sein. Glauben Sie mir. Die Wand schützt. Vor dem Chaos im Jenseits.


Singen Sie Lieder. Lieder, die sie zu Lebzeiten gesungen hat. Oder lesen Sie ihr etwas vor. Geschichten, Gedichte, die sie geliebt hat. Das ist das Beste, was Sie für Laura tun können.

Vor allem, vergessen Sie Ihren Plan!


Ich könne ebenso gefahrlos den Corso mit geschlossenen Augen zur Hauptverkehrszeit überqueren, wie mich gefahrlos im Jenseits bewegen.

Nach dem Tod sind die Menschen noch eine Weile in der Nähe der Erde. Nutzen Sie die Zeit, das Vorlesen hilft, tröstet, ist vertraut.


Enttäuscht ging ich nach Hause, ich war nicht mehr wütend, ich war nur noch traurig, ich setzte mich an den Flügel und sang bis in die Nacht hinein. Von diesen Stunden an ging es mir besser.


Und so fing alles an.

Erst sang ich für Laura, dann für Freunde. Danach kamen Fremde.

Es gab Unterschiede. Es war nicht dasselbe, ob deutsche Volkslieder gesungen wurden. Oder russische. Oder spanische. Oder französische.

Anfangs dachte ich, es ist Zufall. Ich bilde mir etwas ein. Aber konnte ich mir jedes Mal etwas nur einbilden?


Das Lesen habe ich später begonnen. Da wurden die Unterschiede noch größer. Es war anders, wenn ich Voltaire las, anders, wenn ich Fontane las.

Bei der französischen Literatur bleibt der Raum heiter.

Bei der deutschen wird er schwer.

Kein Volk im Jenseits sei trauriger als das deutsche.


Es klingelte an seiner Haustüre, und unser Gespräch war beendet.


Tief beeindruckt fuhr ich nach Hause.

… dass es Menschen gibt, die ewige Gesetze einfach in Frage stellen – die gewohnten Vorstellungen von Leben und Tod durchbrechen ...

Die Fremde: Text

Bruno

Nuccio sagte, er würde ihn schon lange kennen.

Er hätte nicht gedacht, dass mich so etwas überhaupt interessiere.


Bruno hatte weder Telefon noch Handy, noch eine Mailadresse. So fuhr ich zu ihm, ohne Anmeldung.

Ein kleiner Mann mit Schlapphut öffnete die Tür. Hinter ihm ein Flur mit Büchern rechts und links, vom Boden bis zur Decke Bücher.


Bruno lachte, als er meinen Blick sah.

Sagte, er würde das Problem schon sehen. Er fände aber keine Lösung. Am besten, er zöge aus. Und die Bücher blieben hier.

Am Ende des Flures ein Wohnraum. Nicht besser:

Bücher vom Boden bis zur Decke.


Habe ich fast alle gelesen. Leider.

Was ich wissen wollte, habe ich in keinem Buch gefunden.

Was mich zu ihm führen würde. Nuccio hätte ihm von mir erzählt.


Jetzt, den Antworten auf die Fragen meiner Kindheit so nahe, hatte ich Scheu zu sprechen.


Ich erzählte stockend, unterbrach mich immer wieder, ich erzählte von meiner Kindheit, meiner Unfähigkeit zu sein wie meine Schwester, von meinem Versuch, mich einzubürgern, meinem Scheitern, ich erzählte von meiner Krankheit und von den Straßen, die immer länger wurden, den Häusern, die immer höher wurden, von dem Schäfer und wie sich neben ihm die Gräser auflösten, von meiner Flucht, dem Leben auf der Straße, dem weißen Porsche. Von Nuccio und von Giorgio. Und dass mich niemals etwas wirklich interessiert hat, außer der Frage, wieso ich lebe.


Er hatte mir aufmerksam und manchmal staunend zugehört. Als ich geendet hatte, schwieg er lange.


Er wolle nicht in geschlossenen Räumen darüber sprechen.

Da würden sich die Worte in den Wänden festsetzen. Und er hätte Mühe, sie später wieder da heraus zu bekommen. Er wolle nach Ostia fahren. Ich könne mitkommen.

Ich könne auch Nuccio mitbringen.

Die Fremde: Text

Ostia

Die Saison war vorbei. Nur noch ein Lokal geöffnet.

Wir waren die einzigen Gäste. Auf dem kahlen Holztisch ein paar Pappdeckel, zwei Gläschen für Salz und Pfeffer. Stühle, schief gesessen. Es roch nach Meer, Sand, Salz.


Ich wartete nicht ab.


Du hast Giorgio gesagt, er solle sich nicht mit dem Jenseits beschäftigen, die Wand zwischen den Welten - Wand sein lassen. Du hast gesagt, im Jenseits herrsche Chaos.

Was hast du damit gemeint?


Wie Giorgio lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, den Blick auf das Wasser gerichtet, wie Giorgio redete er, als wären wir nicht da.


Die meisten Menschen sterben ohne Plan, ohne Ziel.

Sie sind sicher, dass für sie gesorgt wird.

Haben ihr Leben lang wiederholt, was ihnen vorgesagt wurde. Kein eigener Gedanke.

Als geistige Analphabeten sterben sie. Sonderschüler der Ewigkeit.


Tante Frieda mit ihren Dauerwellenproblemen wird nicht Senecas Gedanken haben, nur, weil sie gestorben ist.


Der Kellner wollte wissen, was wir essen wollten.

Wie sollte ich eine Speisekarte lesen können? Jetzt?

Absurd, eine Auswahl zu treffen.


Spaghetti mit Tomatensauce oder Aglio Olio. Mit Muscheln oder ohne Muscheln. Mit Salat oder ohne Salat, weißer Wein oder roter Wein. Der Kellner nahm die Bestellung entgegen.


Bruno redete weiter, als wären wir nicht unterbrochen worden.


Es gibt Unruhe im Jenseits.


Was würde der Papst wohl dazu sagen? Nuccio war wütend.


Bruno blieb ruhig.

Vielleicht weiß er es und hat nur keinen, mit dem er darüber reden kann.


Ich konnte nicht stillsitzen.

Unruhe im Jenseits? Aber Bruno. Man spricht von ewigem Frieden nach dem Tod. Von einem Gott, der für uns sorgt.


Ach was. Es gibt Halunken dort, wie hier, Diebe, Betrüger …


Nuccio fuhr Bruno ins Wort.

Auch Mörder?

Mörder im Jenseits?

Und wenn dort jemand umgebracht wird, landet er dann wieder hier?


Bruno ging nicht auf ihn ein.

Redete weiter.


Es gibt Machthungrige, Gierige, Neidische, Süchtige.

Es gibt die Ermordeten, Verscharrten, Verhungerten, Verdursteten. Die Belogenen, Betrogenen.

Alle sind sie gestorben und zusammen im Jenseits. Wie sollte es da keine Unruhe geben …

Ich wollte nicht aufgeben.

Aber es gibt auch die Liebevollen, Dankbaren, Fürsorglichen.


Liebevoll, dankbar, fürsorglich. Das reicht nicht aus. Der Mensch muss sich entschieden haben für ein Ziel, einen Plan, und sich nicht Welten überlassen, die ihm nach dem Leben trachten.


Ich sage dir, im Jenseits herrscht Chaos.

Der Kontakt zu den Welten hinter den Formen ist durchaus sinnvoll. Aber nur unter einer Bedingung.

Wenn wir das grundsätzlich Falsche beider Seiten erkennen. Unsere Einfalt aufgeben. Die Wahrheit ertragen lernen.

Die Welt ist ein falsches Konzept.

Hier muss einer den anderen fressen, um leben zu können.

Würdest du deine Kinder verfüttern? Was für eine schreckliche Frage. Der Gott, den ich meine, der hätte eine solche Welt nicht geschaffen.


Er redete wie andere über einen Kochkurs.

Als wäre es das Selbstverständlichste.


Der Kellner brachte das Essen.

Dreimal Spaghetti alle Vongole. Und einen Korb Brot. Der Kellner war missmutig. Absurd die Situation.

Stumm und kauend saßen wir über den Nudeltellern.

Ich war dankbar für den Wind, das Geräusch der Wellen, den Geruch von Salz und Sand. Das gab mir Sicherheit, in einer ganz realen, fassbaren, tastbaren, hörbaren Welt zu sein. Selbst die Nudeln und der Geruch von Parmesan trugen dazu bei.

Die Fremde: Text

Das Meer ist traurig

Nach dem Essen gingen wir am Strand entlang.


Früher sei er so gerne am Meer entlanggelaufen.

Heute würde er die Ertrunkenen merken. Das Meer hätte die Unschuld verloren. Ob ich auch die Traurigkeit merken würde.


Nein, traurig war ich nicht. Nur hatte ich mir die Wahrheit unkomplizierter vorgestellt.

Die Fremde: Text

Der Geisterfahrer

Es war schon dunkel geworden, als wir nach Rom zurückkamen. Die Straßen leer. Vor einer Kurve bremste Bruno scharf, fuhr rechts auf den Bürgersteig. Blieb stehen.

Einen Augenblick später kam uns ein Wagen entgegen. Auf unserer Straßenseite. Ohne Licht. Ich schrie auf, griff nach seiner Hand.

Bruno blieb ruhig. Und fuhr weiter.


Woher wusstest Du das?


Ich wusste gar nichts. Ich fuhr auf die Seite. Ich hatte den dringenden Wunsch, rechts auf den Bürgersteig zu fahren.


Das waren die Engel! Die Engel waren das! Nuccio schrie von hinten.


Bruno schwieg.


Nuccio bat Bruno mir zu bestätigen, dass es die Engel gewesen seien. Bruno schwieg, und Nuccio wollte wissen, wieso er nichts dazu sagen wollte.


Weil es keinen Sinn hat. Du glaubst an Engel. Basta!

Und das will ich dir nicht nehmen.


Nuccio war wütend.

Und was sagst du dann?


Mit den Engeln verbindet man das Gute. Aber das ist falsch. Es gibt auch schwarze Engel.


Nuccio schrie von hinten.

Schwarze Engel? Du bist ja verrückt. So einen Unsinn habe ich noch nie gehört.


Vieles, was wir noch nie gehört haben, ist trotzdem wahr.


Als wir vor unserem Haus angekommen waren, stieg Nuccio grußlos aus. Ich blieb.


Wenn kein Engel ihn gewarnt hätte, wer dann?


Es gibt Wesen, denen es wichtig ist, dass du nicht verunglückst. Es sind schützende Wesen. Er könne nicht zählen, wie oft er gewarnt worden sei. Er wäre längst tot ohne ihre Einmischung.

Nicht jeder merkt sie, dazu sind die Menschen zu eilig, ständig beschäftigt mit diesem oder jenem. Wären sie aufmerksam gewesen, sie hätten manche Fahrten nicht unternommen.


Wenn es böse Engel gibt, gibt es auch böse Schutzwesen?


Er lachte.

Sie wären ja keine schützenden Wesen …


Werden alle beschützt? Oder gibt es Ausnahmen?

Bevorzugte? Benachteiligte? Auserwählte?


Alle werden beschützt!


Mörder? Verbrecher? Lügner? Betrüger?


Alle! Schuldige und Unschuldige. Sie machen keinen Unterschied. So wenig wie Luft, Wasser, Licht, Erde.


Stell dir vor, die Sonne würde nur den Guten scheinen, das Wasser nur den Durst der Gerechten stillen. Der Schatten der Bäume nur für die Freundlichen da sein. 

Was würde dann geschehen? Nicht auszudenken.


Bruno verabschiedete sich von mir mit einer festen Umarmung. Versicherte, dass wir uns ganz bald wiedersehen müssen.


In unserer Wohnung fand ich Nuccio auf seinem Bett liegend, eine Flasche Wein neben sich.

Ich wollte wissen, warum er Bruno ständig widersprechen würde.

Ich bin auf alle Spinner wütend, das hat nichts mit Bruno zu tun.

Er war so aufgebracht, dass ich es vorzog, in mein Zimmer zu gehen.

Die Fremde: Text

Mein Weltbild

Mein Weltbild stand auf dem Kopf.

Chaos im Jenseits, Lesen für die Toten, Engel, die böse sind, schützende Wesen, die nicht unterscheiden zwischen Mördern und Heiligen.


Ich rief dich an. Sehnte mich nach deiner Einfalt, deinen Plaudereien. Du warst einzuordnen.


Bitte, nimm dir wenigstens einmal Zeit für mich. So bat ich dich!

Du warst erstaunt, sagtest, du nähmest dir doch schon ein ganzes Leben Zeit für mich.


Die Gäste schauten auf, als du das Lokal betreten hast.

Cape von Dior, passender Hut mit breiter Krempe, lindgrün. Handtasche von Gucci.

Du hast dir eine heiße Schokolade bestellt.

Mir ein Bananeneis mit Sahne.


Mochtest du früher so gerne. Bananeneis mit Sahne.

Dann hast du meine Hand genommen:


Ich werde für dich eine kleine Wohnung suchen. Dann kannst du aus dem Müllberg ausziehen. Hast du gesagt.

Die Fremde: Text

Ich hätte dir sagen sollen

… es gibt keinen Müllberg, ich ziehe nicht aus,

es gibt Chaos im Himmel, Engel, die böse sind, schützende Wesen, die keinen Unterschied machen zwischen einem Gewaltverbrecher und einem Heiligen.

Es gibt Sprachen und Völker im Jenseits.

Das hätte ich dir sagen wollen, aber ich sagte nichts.


Du erzähltest von einem Designer, den du kürzlich kennengelernt hast, von einem Buch, das er dir geschenkt hat. Der Autor, ein Chinese, ein gewisser Dschuang Dsi. Dass du schon etwas darin gelesen hast. Aber es doch nicht so recht verstehst, was der Dichter eigentlich sagen will.

Dir aber in Zukunft Mühe geben wolltest.


Vielleicht können wir eines Tages darüber sprechen. Dann haben wir endlich ein gemeinsames Thema.


Als ich nach Hause gehen wollte, hast du mich am Arm festgehalten. Du warst streng mit mir.


Und heute kommst du mit zu der Party.

Die Prominenz ist da versammelt. Und deine Mutter gehört dazu. Und ich möchte, dass du andere Leute kennenlernst als diesen Nuccio.


Wie hätte ich nein sagen können.


Die Stunden bis in die Nacht habe ich auf langen Sofas gesessen, mit deinen berühmten Freunden, deren Gesichter auf den Plakaten zu sehen waren. Bestaunte ihre glatten, strahlenden Gesichter, bewunderte ihre Wortgewandtheit.

Spät in der Nacht kehrte ich in mein Zimmer bei Nuccio zurück.

Mit meinen Erlebnissen hatte ich niemanden belästigt.

Die Fremde: Text

Gute Welten

Wochen vergingen. Bruno meldete sich nicht. Nicht am nächsten Tag, nicht am übernächsten und auch danach nicht.

Da er nicht erreichbar war, weder über Telefon noch über Handy, beschloss ich, unangemeldet vor seiner Tür zu stehen.

Schön, dass du da bist, sagte er, als er öffnete.


Auf dem Boden, Tischen, Stühlen lagen gestapelt Bücher.


Ich ordne meine Bibliothek neu.

Alle paar Jahre habe ich den Inhalt überholt. Es gibt nur wenige, die man ein Leben lang auf seinem Nachttisch liegen lassen kann. Wir könnten auch miteinander sprechen. Falls du nicht zu anstrengend wirst mit deinen Kinderfragen.


Wie sollte ich wissen, was anstrengend sein würde für Bruno und was nicht. Ich fing mit dem mir Dringlichsten an.


Du sagst, im Jenseits herrscht Chaos. Aber das kann doch nicht alles sein. Wo sind die guten Welten? Ein gutes Jenseits? Wo die, die wissend gestorben sind? Menschen, die sich entschieden haben. Freie Menschen? Freie Tote?

Weisheit? Kraft und Licht?

Und wo ist das Wahre, das ursprünglich Göttliche?


Er lachte.


Wo die guten Welten sind? Wie bescheiden deine Frage …

Ganz einfach: Hände gefaltet, Augen geschlossen und ein Summen auf den Lippen. Dann bekommst du es heraus.


Er grinste mich an.

Er nahm mich nicht ernst.

Vier Stunden am Tag trainiert einer, der in einer Fußballmannschaft mitspielen will, sechs Stunden einer, der in einem Orchester mitspielen will. Um die Wahrheit kennenzulernen, brauche es mehr, als nur Fragen zu stellen. Oder meditierend sich Welten überlassen, die nur darauf warten, einen zu verspeisen.

Dass die Leute über Kinderfragen nicht hinausgekommen sind – das ist Plan. Raffiniert.

So kann man sie scheuchen. Und im Rad drehen.

Die Wahrheit, meine Liebe, die Wahrheit würdest du noch nicht verkraften!


Ob ich die Geschichte von der Weltenesche kennen würde.

Ohne meine Antwort abzuwarten sprach er weiter.


An einer Weltenesche klettert ein Eichhorn hinauf und hinunter und wieder hinauf.

Die Krone des Baumes erzählt dem Eichhorn, was sie von der Wahrheit erfahren hat. Das Eichhorn klettert von der Krone zur Wurzel und erzählt der Wurzel, was die Krone von der Wahrheit erfahren hat. Die Wurzel versteht nicht.

Die Wurzel berichtet dem Eichhorn, was sie von der Wahrheit erfahren hat. Das Eichhorn klettert hinauf zur Krone und berichtet, was die Wurzel von der Wahrheit erfahren hat. Die Krone versteht nicht.


So geht es denen, die nur Kinderfragen haben.


Bruno nahm meinen Kopf in seine Hände, schaute mich eindringlich an und flüsterte:


Wahr ist, Antigone, wir haben Feinde, die schlafen nie. Sie sterben nie. Weil sie nicht mehr geboren werden müssen.

Sie leben dort, wo es keine Zeit gibt. Sie haben viele Helfer, Helfer, die keine Ahnung haben, wem sie dienen.

Wir gehören alle einem Sklavengeschlecht an.

Und du hörst am besten auf, dich mit Welten zu befassen, die

uns nach dem Leben trachten.


Und Freunde, haben wir Freunde?

Ich dachte nicht, dass er mir antworten würde. Er tat es.


Wir haben Freunde, mächtige, große Freunde. Die schlafen auch nie!

Damit meine ich nicht die wunderbaren schützenden Wesen. Es sind Menschen, Menschen, die es geschafft haben, sich aus dem Zugriff zu befreien. Das sind unsere Freunde.

Aber die Menschen merken sie nicht. Die sind dauernd beschäftigt. Lauter Wichtigkeiten. Sie würden sie nicht merken, wenn sie direkt in Fleisch und Blut vor ihnen stünden, so blind sind sie.


Geh jetzt, ich muss alleine sein.


Das war für eine Weile das letzte Mal, dass ich Bruno traf.

Die Fremde: Text

Das schwarz-rote Buch

Wochen waren vergangen. Und kein Zeichen von ihm. Auch Nuccio hatte nichts von ihm gehört. Dann war ich es leid. Ich fuhr zu ihm, ohne zu wissen, ob er da sein würde.


Schön, dass du da bist, sagte er, als er die Tür öffnete.

Ich ordne immer noch meine Bibliothek um.
Ich könne ja daneben sitzen.


Einige Regale waren leer geworden. Aber noch immer stapelten sich Bücher auf dem Boden, auf dem Tisch, auf den Stühlen.


Bruno. Wir haben Feinde, hast du gesagt. Aber wir haben auch Freunde. Und wie kann ich erkennen, wer Feind, wer Freund ist.


Das ist das Problem. Den Unterschied zu erkennen.


Ich wollte wissen, was er damit meint. Er winkte ab.

Dann vertiefte er sich in seine Bücher.


Ich wagte es nicht, ihn noch einmal zu fragen. Blätterte stumm in Kunstbänden.


Da lag, eingeklemmt zwischen Leonardo und Rembrandt, ein schmales rot-schwarzes Buch. Auf der Titelseite, in winziger Schrift geschrieben: „Aus Liebe zum Schwarzen. Magische Zeremonien“.


Bruno sah das Buch in meinen Händen.


Leg es weg. Das ist nur für die, die sich unglücklich machen wollen. Ich hätte es längst verbrennen sollen.


Nein! Ich wollte es nicht weglegen, ich wollte sie kennenlernen, die Geheimnisse, die Antworten auf die Fragen nach dem Woher, Wohin. Frei von Bruno, Giorgio und allen anderen. Ich wollte gefährliche Türen öffnen, Zutritt bekommen zu dem Unsichtbaren. Unabhängig werden. Selber machen. Selber haben.

Ich schob das Buch unter mein Hemd.

Kurz darauf verabschiedete ich mich von Bruno. Er schien keinen Verdacht zu haben. Oder tat er nur so?


Zu Hause angekommen, schrieb ich einen Zettel für Nuccio, legte ihn vor meine Zimmertür. „Bitte nicht stören“. 

Zum ersten Mal benutzte ich den Zimmerschlüssel.

Heimlich, hinter verschlossener Tür begann ich. Übungen. Stunde um Stunde.

Die Fremde: Text

Die Welt der Toten

Ich ahnte nicht, wie leicht die Tür zu öffnen ist. Ich erinnerte mich an Brunos Worte: Im Jenseits ist Unruhe.


Sie kamen in Gruppen, kleine Gruppen. Nachts. Sie durchquerten den Raum und verschwanden wieder.

Sie schienen in Eile. Klingt ja seltsam. Eile im Jenseits.


Wenn sie sich näherten, knackte das Holz. Man spürt ihre Nähe wie fester werdende Luft.

Es kommt der Moment, in dem die Berührung unausweichlich scheint. Unsichtbares die Haut berühren wird.

Aber das geschah nie.

Ich konnte keine Nacht ruhig schlafen.

Eines Nachts wurde ich wütend. Ich sprang aus meinem Bett auf.


Raus! Schrie ich.


Was dann geschah?

Es war augenblicklich still. Kein Holz knackte mehr, der Raum leerte sich. Und blieb leer. Die ganze Nacht.


Von da an wusste ich, dass ich bestimmen muss.

Die Fremde: Text

Menschen aus Glas

Täglich habe ich geübt.


Mehr und mehr veränderte sich mein Blick.

Ich sah die Menschen um mich wie durch einen Röntgenschirm. Durchsichtig.

Menschen aus Glas!

Sah ihre Angst, Gier, Wut, Zweifel.

Innen - Wut. Außen - Lächeln.

Innen - Verwirrung. Außen - Arroganz.

Innen - Gier. Außen - Schüchternheit.


Ja, gläsern wurden die Personen.

Ich hatte oft Mühe, dem Drang zu widerstehen, auf Unbekannte zuzugehen. Sie zu warnen, zu trösten oder anzuschreien.


Ich hätte dir sagen wollen, wie hoffnungslos es ist, verborgen zu bleiben.  Dass es nichts gibt, was nicht bemerkt wird, verborgen bleibt. Privates, eine Mär.

Das hätte ich dir sagen wollen.

Die Fremde: Text

Zeitsprünge

So schwer es war, die Menschen in ihrer Nacktheit zu sehen, so schwer waren die Zeitsprünge zu ertragen!


Ich sitze in einer Bar und - es ist schon gestern gewesen. Verstehst du?

Obwohl ich zu dieser Stunde noch hier bin, ist es schon vorbei.

Ich gehe durch eine Straße – schon ist es lange her.

Ich sitze in einem Café, spreche mit dem Nachbartisch – es ist längst vorbei.

Einkaufen, kochen, plaudern, speisen, lachen - schon vorbei.

Gegenwart - schon Vergangenheit. Ich tue etwas, und während ich es tue, ist es schon Vergangenheit.

Begriffe wie „früher“, „später“ galten nichts.

Es tut mir leid, besser kann ich es dir nicht beschreiben.


Es gab Tage, an denen meine Wahrnehmungen mich dem Irrsinn näher brachten als dem Sinn. Ich hatte Angst, verrückt zu werden. Oder war ich es schon?

Und doch hörte ich nicht auf zu üben, gewiss, dass mir nichts Schlimmeres passieren würde.

Die Fremde: Text

Das Tableau

Ich saß in meinem Zimmer in Rom auf dem Bettrand, Kaffeetasse in der Hand, Blick auf den Boden.


Zwischen Boden und mich schob sich ein Bild. Eine Platte, nein, keine Platte, eine Tafel, nein, keine Tafel. Ein Land. Ja, ein Land. Mein Leben. Auf einer Fläche. Ich erkannte alles wieder. Jahre, Ereignisse – kein Hintereinander mehr. Ein Nebeneinander, ein Miteinander, ein ganzes Ganzes.

Mein Leben. Alles da. Alles zugleich. Mein ganzes Leben. Auf einer Fläche, die keine Fläche war. Von oben gesehen, das kein Oben war, ein Hinunterschauen auf etwas, was kein Unten hatte. Jahrzehnte.

In welchen Zeiträumen lebte ich?

Die Fremde: Text

Der Spiegelsaal

Ein Traum.

Ich war mit einem alten Mann in einem mir unbekannten Haus. Er ging mit mir einen langen Gang hinunter. Öffnete eine Türe. Es war ein Spiegelsaal.


Schau! Sagte er. Und zeigte mit der Hand auf einen der Spiegel.


Ein Gebilde aus Schlingen und Masse, ein altes, uraltes Gebilde glotzte mich an. Nicht einmal Rumpf. Ohne Glieder. Graue, glibbernde Masse.

Ich wich erschrocken zurück.


Um Himmels Willen. Was ist das?


Du! Auch Du!


Ich wollte aus dem Raum rennen, hinaus, aus dem Haus in die Wiesen, aber meine Beine konnte ich nicht bewegen. So musste ich weiter dieses Gebilde anschauen. Der Alte legte mir seine Hand auf die Schulter.


Du brauchst keine Angst haben, es wird nichts geschehen. Was du siehst, ist Vergangenheit. Die Summe aller Leben.


Mit verweinten Augen wachte ich auf, mit verweinten Augen frühstückte ich
mit Nuccio.

Die Fremde: Text

Blaumilchkanal

Obwohl ich nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte, hörte ich nicht auf mit den Übungen.


Liege auf meinem Bett. Schaue auf meinen Rücken hinunter. Aus dem Rücken fließt etwas, bläulich-weiße Flüssigkeit, fließt hinein und wieder hinaus, und wieder hinein. Eine Stimme ohne Stimme redet, sanft, ruhig, klar.


Antigone! Du bist weit gekommen, Antigone. Du näherst dich der Meisterschaft. Alles was du begehrst, es wird dir zuteil, es wird dir zur Verfügung stehen. Die Schatzkammer ist geöffnet. Wissen. Kraft. Licht. Und mehr.


Wer bist Du?


Ich bin die Macht, die dir zur Seite steht. Allen. Jeder, der mir folgt, wird alles erhalten, wonach er sich je gesehnt hat. Jeder Wunsch, jeder, wird erfüllt.


Wer bist Du?


Siehst du deinen Rücken? Er ist offen, nicht wahr? Über diese Öffnung wirst du mit einer Kraft verbunden, die größer ist als alles, was du je erlebt hast.


Einen Moment war ich unsicher. Sollte das die Wahrheit sein? Ich, auserwählt? Ich? Ich hatte lediglich geübt. Was hatte ich sonst geleistet.


Und dann - war ich gewiss.


Nein! Ich will das nicht.


Du willst das nicht?


Nein.


Du nimmst die Macht nicht an?


Nein.


Alles erreichen, was du dir je gewünscht hast?


Nein. Ich will nicht! Hau ab!


Von meinem Schrei wachte ich auf.


Die Nacht war fahl. Die Nacht war grau. Eine Nacht. Wie jede andere. Niemand im Raum.

Die Fremde: Text

Hieronymus

Noch ganz andere Welten lernte ich kennen. Hieronymus Bosch, ein Realist. Das waren keine Träume.


Wo ich mich auch aufhielt, zu Hause, im Park der Villa Borghese, in den Straßen, in Geschäften, in einem der kleinen Kinos – in der Luft – ein heftiges Treiben. Huschen und Zischen, ein Wechseln und Gleiten, ein Weben und Nagen. Krüppelige Gestalten, die sich mit großer Geschwindigkeit durch den Raum bewegten. Sie scharten sich um mich, glotzten mich an. Seltsame Formen. Hauchdünn. Figuren, lang, schmal, andere breit, verformt. Bosch: ein Realist!

In meinem Zimmer, tellergroße Spinnen kommen aus einer Wand, kriechen an der Decke entlang, um wieder an der anderen Seite spurlos zu verschwinden.

Nichts schien unbewohnt. Alles war durchdrungen. Durchwoben. Alles mit allem verwoben. Was für eine Welt!

Die Fremde: Text

Angst!

Als Bruno die Tür öffnete, zog ich das kleine rot-schwarze Buch aus meiner Tasche.

Er nahm mich fest in die Arme, ganz fest.


Zauberlehrling. Ich habe dich gewarnt. Es sind gefährliche Welten, mit denen du es zu tun bekommen hast.

Wenn die Wände dünner werden, sieht man, was andere nicht sehen. Aber dann muss man ganz fest stehen.

Darum habe ich damit aufgehört. Und ich bin mit einem blauen Auge davongekommen.


Bruno, wenn die Menschen sähen, was sie nicht sehen, sie würden in Panik geraten, nicht wahr?


Sie würden sich nicht mehr auskennen. In alle Richtungen flüchten. Aber nicht wissen, wohin. Sie haben nichts gelernt als das, was man ihnen vorgesetzt hat.

Das ist das Schlimmste. Auch der härteste Realist ist naiv.

Die Fremde: Text

Suche nach dem Meister

War für Bruno der Weg hier zu Ende … für mich war er nicht zu Ende. Ein Zurück gab es nicht. Es bei dem zu belassen, was ich bis jetzt kennengelernt hatte, reichte nicht.

Ich wollte die ganze Wahrheit. Egal, wie gefährlich es werden würde.


Es gab sie, diese bizarren, furchteinflößenden, unsichtbaren Welten. Und ich hatte sie gesehen, ja. Aber dahinter musste es Anderes geben. Eine freie Welt. Eine weise Welt. Und ich wollte sie finden.

Einen Meister, einen Meister brauchte ich. Einen, der mich hinter die Welten begleiten konnte, quer durch die schrecklichen Welten.

Die Fremde: Text

Spurensuche

Ich folgte jeder Spur von der ich hörte, lief treppauf, treppab. Fand bonbonfarbene Hauseingänge, Frauen in weiten Kleidern, die die Luft aus Fläschchen einsprühten, Räume mit seltsamen Lichtkörpern ausgeleuchtet, Männer mit stechendem Blick.

Zwischen Sauerkrautgeruch und Kohlrouladen, abgedeckten Betten, in winzigen dunklen Wohnungen, bin ich seltsamen Personen begegnet, mit seltsamem Gebaren, bedeutungsvollen Gesten, merkwürdigen Ritualen. Jeder hielt sich für zuständig.

Jeder von ihnen behauptete, mir den einen Weg weisen zu können.


Ich aß wenig und wurde von Woche zu Woche dünner. Immer öfter schaute mich Nuccio an, besorgt. Sagte nichts.

Die Fremde: Text

Okzitanien

Erinnerst du dich?

Du hattest Angst vor dem Fliegen. Ich sollte dich fahren.

Mit meinem weißen Porsche. Rom - Carcassonne.


Schon neun Stunden und kein Ende. Schon siebenhundert Kilometer. Der Rücken klebt am Sitz.

23:50 Uhr, letztes Mal tanken. Können nicht weiter. Noch zwanzig Minuten bis Mitternacht. Abfahren von der Autobahn. Schlafplatz suchen. Kein Licht brennt mehr.

Alle Dörfer im Stockdunkel. Nicht einmal eine Straßenlaterne.

Irgendwann ein Schild: Nur Durchfahrt für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Wir parkten am Straßenrand unter einem Baum.

Die Müdigkeit zwang in einen kurzen, tiefen Schlaf.

Um drei Uhr in der Früh weiter.


Als der Morgen graut - ein anderes Land.

In der Ferne - die Gebirgskette der Pyrenäen.

An der Tankstelle Kaffee trinken.

Es riecht nach Zypressen, Eukalyptus, Thymian. Die Erde staubig, sandig. In der Luft der heisere Ton der Zikaden.

In nur wenigen Kilometern hat sich das Land verändert. Karstiger, heller Boden.

Die Fremde: Text

Carcassonne

An den Straßenrändern. Riesige Plakate, riesige Schrift.

Land der Katharer.

Katharer.

Ich kannte das Wort nicht, fragte dich.

Du kanntest es nicht.

Im Foyer des Hotels Fotografen.

Wie wir aussahen? Haare zerzaust, Tusche verlaufen, Kleider zerknittert.

Im letzten Moment hast du eine große Sonnenbrille aufgesetzt.

Lächelnd bist du an den Fotografen vorbei.


Wir kämen gleich wieder. Nur kurz die Kleider wechseln.


Auf dem Weg in unsere Zimmer sagtest du, mir könne es ja egal sein, wie ich aussähe. Ich könne mir das ja leisten.


Hat mich traurig gemacht.


Nach einer halben Stunde hattest du dich umgezogen, geschminkt, gekämmt. Im Foyer warteten Journalisten. Mit gezücktem Stift. Geduldig.

Die Fremde: Text

Lena

Unter ihnen eine Frau mit müdem Blick. Sie stellte dir Fragen. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie die Antworten interessierten.

Nach der Pressekonferenz versammelten sich alle am Buffet.

Neben mir stand sie. Die Frau mit dem müden Blick.


Was für eine bemerkenswerte Dame diese Schauspielerin sei, so klug, diszipliniert, und so professionell.


Dann wollte sie wissen, für welche Zeitung ich schreibe. Ich sagte ihr, dass ich deine Tochter bin. Dass ich dich von Rom hierhergefahren habe, weil du nicht fliegen wolltest. Dass ich in Bezug auf Disziplin noch eine Menge von dir lernen müsse. Das sagte ich ihr.

Sie reichte mir ihre Hand, eine kräftige warme Hand.


Ich heiße Lena.


Antigone.


Antigone?

Sie lachte.


Dein Onkel ist Kreon, nicht wahr? Und deine Schwester Ismene?


Kreon sei nicht mein Onkel, aber meine Schwester heißt tatsächlich so. Ismene. Sie konnte es nicht glauben.


Kurz darauf entschuldigte sie sich für ihren Spott.

Sie war mir vertraut. Vertrauter als Ismene es je gewesen ist. Als hätte es keine Zeit gegeben, in der ich sie nicht kannte.


Sie sei hier jedes zweite Jahr. Das katharische Erbe wach zu halten. In Foix, auf dem Montségur, dem Montréal-de-Sos, in der Lombrive, in der Bethlehem. Aber auch in der Cité.


Ich gestand ihr, dass ich all diese Namen noch nie gehört hätte, nichts über die Katharer wisse.


Sie lud mich ein, sie in die Cité zu begleiten. Sie hätte dort eine Verabredung.

Fragte, ob du auch mitkommen möchtest.


Als ich dich fragte, schautest du mich sprachlos an. Wie ich denn nach einer solchen Strapaze so eine Frage stellen konnte. Es sei doch selbstverständlich, dass du nur noch Ruhe brauchen würdest.

Die Fremde: Text

Cité

Parkplätze so breit wie Chausseen, für Busse hier, für PKWs woanders. Vor der Burgmauer ein Karussell. Buntlackierte Pferdchen, die sich zur Leiermusik im Kreis drehten. Und innerhalb der Festung: Trubel, Gedränge. Buden mit Hot Dogs, Sauerkraut, Cola, Souvenirs. Anhänger mit lachenden Rittern.


Vor einer Tür ein Mann im Frack, freundlich.


Nous sommes heureux de vous presentez les chambres de torture.


Lena zog mich weiter.


Nur weg, sagte sie, nur weg.


Hier kann man sehen, wie aus einer Hochburg des Widerstandes Kirmes entstehen kann.

Die Fremde: Text

Wladimir

Sie rannte auf einen Mann zu. Er stand an einen Brunnen gelehnt. Hochgewachsen, braune Locken, ein Jungengesicht, schüchtern. Scheinbar. Sie fiel ihm um den Hals, lachend. Dann winkte sie mir zu.


Das ist Wladimir, sagte sie. Wladimir, das ist Antigone.

Sie ist die Tochter der berühmten Schauspielerin. Antigone hat noch nie von den Katharern gehört, kannst du dir das vorstellen?


Während Lena sprach, schaute Wladimir mich unverwandt an. Lena musste gesehen haben, wie verwirrt ich über ihn war.

Sie kniff ihn in den Arm.


Und du, lass sie in Ruhe.

Lachend zog sie mich von ihm fort.


Lass dich nicht täuschen. Alle Frauen verlieben sich in ihn.

Er verliebt sich in keine.

Die Fremde: Text

Befreiende Bewegungen

Lena lud uns ein in ein Straßencafé außerhalb der Cité.

Wir saßen mit dicken Tassen in der Hand in der Sonne. Ich war glücklich. Für mich - ein fremdes Wort. Ich bat Lena, mir ein wenig über die Katharer zu erzählen, es sei mir peinlich, gar nichts zu wissen.


Sie weigerte sich.

Es sei besser, ich würde über die Katharer und die Kreuzzüge nachlesen.


Aber das, was in der Luft geblieben ist, das steht nirgendwo geschrieben.


Sie luden mich ein, mit ihnen zu kommen.

Auch wenn ich nicht wusste wohin, ich war einverstanden. Nie war ich so sicher, mit den richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Die Fremde: Text

Foix

Ich hätte dir erzählen sollen von Foix. Von der Burgmauer, da habe ich gesessen, Wladimir neben mir. Ich, Knie an Bauch gezogen, Nase lief, Tränen liefen. Nichts hätte mich beruhigen können.


Du musst dich nicht schämen, das kannst du nicht aufhalten! Das katharische Weinen. So nennen wir es. Es gibt viele Arten zu weinen. Aber nur eines ist so.


Das hätte ich dir erzählen sollen. Aber ich sagte nichts.


Ich hätte dir sagen sollen, dass meine Füße die Wege kannten. Ich nicht. Das mir alles hier vertraut war. Erinnerungen an etwas, was ich als ich nicht erlebt haben konnte.


Bilder in der Luft: Lange Gänge durch die Nacht. Bergauf. Bergab. Heimlich. Lautlos. Schweigende Märsche. Einer hinter dem anderen. In geheimer Mission.


Simon de Montforts. Ein Name steht mit Blut geschrieben.

Achthundert Jahre.

Die Fremde: Text

Das Recht, Nein zu sagen

Ein Leben lang - nein zu sagen. Mich zu weigern, ein tauglicher Mensch zu werden. Nichts von allem, was man mir beibringen wollte, ging auf. Alles musste neu bedacht werden. Nichts, was ich im Leben gelernt habe, ging auf, nichts. Alles war neu zu bedenken. Die allerkleinste Alltagshandlung würde zur kolossalen Übung werden.

Und die Rechte der Menschen neu bestimmt werden. Und jeder würde seinen Namen tragen.


Warum hatte ich von den Katharern nicht als Kind gehört? Als ich fünf Jahre alt war. Warum hat mir niemand darüber erzählt. Ich hätte vierzig Jahre weniger gebraucht, um mich zurechtzufinden.

Kein Buch, kein Vortrag, kein Film, keine Reise konnte mir ersetzen, was ich in mir an Erinnerung trug.

Kein Machu Picchu, kein Ashram, kein buddhistisches Kloster, kein griechischer Tempel, kein keltischer Ort der Kraft. Kein Gedanke, kein Gefühl konnte dieses ersetzen.

Ich hatte meine Wahrheit gefunden.

Die Fremde: Text

Tal der Ariège

Weißt du, wie oft ich in das Tal gefahren bin mit dem Bus? Erinnerst du dich?

Zur Linken der Fluss, in der Mitte der Weg, auf der rechten Seite der Berg. An den Felsen hinaufgeschaut.

Die Felsen mal nackt, mal karg, mal grün.


Aber es war nicht das Maggiatal, das ich suchte, es war das Tal der Ariège. Es waren nicht die Alpen, die ich suchte. Es waren die Pyrenäen.

Es waren die Höhlen, die ich suchte an den kahlen Felsen im Maggiatal.

Lombrive, Ussat, Ornolac, Bouan, Fontanet, Ramploques, Eremit.

Das hätte ich dir sagen sollen. Auch dann, wenn du diese Namen nicht kanntest.

Die Fremde: Text

Heiligtum der Katharer

Ich hätte dir von der Grotte erzählen sollen, in die man auf der einen Seite hinein, auf der anderen Seite hinausschauen kann.

Von dem Riesenstein, der dort lag. Von dem Zeichen an der Wand.


Du erinnerst dich an die Plakate an den Straßenrändern? Land der Katharer.
Dort, wo sie waren, da gab es keine Plakate, keine Schilder, keine Fähnchen, Leiermusik, Karusselle mit bunt angemalten Pferdchen. Dort hinauf führte ein Trampelpfad. Kaum zu sehen und an manchen Stellen zugewachsen.

Ich hätte dir von dem Törchen erzählen sollen, das quer über dem Trampelpfad stand.

Schmales Tor aus Holz, verwitterte Schrift. Drei Worte. Heiligtum der Katharer.

Ich hätte dir von dem Torbogen erzählen sollen. Aufeinandergestapelte Steine.

Und ich hätte dir sagen sollen, dass ich vor dem Eingang der Grotte stand. Haare über das Gesicht gezogen, damit niemand sehen konnte, wie mir die Tränen rannen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so unbegreiflich geweint zu haben.

Wladimir stand hinter mir, seine Hand auf meiner Schulter.


Wie lange ich dort gestanden habe, ich erinnere mich nicht. Zeit gab es nicht.

Irgendwann sind wir wieder hinunter-gegangen, durch den Torbogen, abwärts. Den Trampelpfad hinunter.


An dem Törchen blieb Wladimir stehen, nahm meine Hand. Weißt du, was ich mir wünsche?

Dass das Törchen noch morscher wird, die Schrift noch unlesbarer, der Torbogen weiter oben abbröckelt, die Mauerreste zerfallen ... damit niemand auf die Idee kommt, auch hier Hot Dogs mit Sauerkraut anzubieten. Sonst könnte noch eines Tages das große „M“ erscheinen. Gar in orangefarbener Schrift.


Ob ich etwas dagegen hätte, wenn wir nicht mehr in die Lombrive gehen würden.
Sie hätten den Eindruck, dass ich nicht mehr an diesem Tag verkraften könne.


Ich wollte gar nichts mehr. Weder bleiben, noch gehen. Ich wollte mir eine Decke über den Kopf ziehen und ein Jahr lang nicht mehr auftauchen. Weiter weinen über etwas, was ich gar nicht wusste.


All das hätte ich dir sagen sollen.

Die Fremde: Text

Der Alte

In der Nacht hatte ich einen entsetzlichen Traum.

Auf dem Boden lag eine Männerleiche, neben ihm eine Frau, in ihrer Hand ein Messer, blutverschmiert. Vor ihr ein alter Mann, sein Gesicht hager, schmal, Augen: groß. Er trug ein schwarzes Gewand, einen Gürtel aus Fäden geflochten um die Taille. Der Alte schaute die Frau an. Sanfter Blick.


Du hast für die Freiheit gekämpft. Und bist an dir gescheitert.

Du hast getötet, was dir das Liebste war.


Von diesem Traum hätte ich dir erzählen sollen.

Aber ich sagte

nichts.

Die Fremde: Text

Ich hätte dir die Lombrive zeigen sollen

Es ist gut, dass du nicht mitgekommen bist. Du hättest dich aufgeregt über den Parkplatz, groß und schmutzig, blätternde Reklameschilder, abgestellte Autowracks. Auf einem rostigen Schild ein Wort: „Lombrive“.

Du hättest dich aufgeregt über den Kartenverkäufer in der Bretterbude, seine Unfreundlichkeit.

Du hättest dich aufgeregt über das rote Bähnchen, das hinauffuhr. In den Reifen fehlte die Luft. Oben angekommen – wärst du erschrocken über die schwarzen Vögel, die ihre Kreise zogen. Kreis um Kreis. Kreischend.

Du hättest Angst bekommen, nachdem der Mann mit dem Schlüsselbund das Eisentor geöffnet hatte und einen Blick freigab auf einen endlos scheinenden Gang in den Berg hinein.

Du hättest dich geweigert, unter dem Felsen durchzukriechen. Um wenige Meter dahinter in einer stockdunklen riesigen Halle zu stehen.

Nichts zu hören. Als Wasser. Und hinter dem Wasser Stille. Eine Stille, so laut, wie ich sie noch nie gehört hatte.


Es gibt das Leben vor dem Durchqueren der Lombrive. Und es gibt das Leben nach dem Durchqueren der Lombrive.

Sagte Lena.

Wer hier durchgegangen ist - der muss nicht mehr nach Indien.

Die Fremde: Text

Montréal

Lena hatte sich vorgenommen, dich mitzunehmen. Sie wollte mit uns zum Montréal de Sos.


Als ich in dein Zimmer kam,
hast du vor dem Spiegel gestanden.

Du sahst wunderbar aus. Ein Trekkinganzug, eine Schirmmütze, Halbstiefel. Halbstiefel? Bei dieser Hitze?


Du hättest eine gute Idee. Du hättest dich nach den Katharern erkundigt. Das sei ja ein seltsames Völkchen gewesen. Man sollte mehr darüber wissen. Du hättest Fotografen bestellt. Eigentlich wollte ein amerikanischer Kollege mitkommen. Der sei schon immer an Ungewöhnlichem interessiert gewesen. Leider hätte er schon einen anderen Termin gehabt.

Schade, sein Wort hätte Gewicht. Man braucht Propaganda.


Mama, nein. Wir nehmen keine Fotografen mit. Die Katharer brauchen keine Presse. Die Plakate sind schlimm genug.


Du warst gekränkt. Hast an der Rezeption angerufen und den Fotografen absagen lassen.


Leider hätten deine guten Ideen bei deiner Tochter noch nie Erfolg gehabt. Hast du gesagt.


Dann hast du deine Kamera aus dem Schrank geholt und sie dir um den Bauch gebunden.


Wenn ich schon keine Fotografen mitnehmen darf ... dann fotografiere ich eben selber … Du warst gekränkt. Immer noch.


Olbi, das unscheinbare Dörfchen am Fuße des Berges. Von dort aus begann der Anstieg zur Gralsburg. Erinnerst du dich?

Du hast gestöhnt, dich über Hitze und Anstieg beklagt.


Oben angekommen - war nicht mehr zu sehen, als ein paar Mauerreste. Der Wind wiegte die Gräser, nichts war zu hören als die Grillen.


Hier ist ja nichts.

Du warst enttäuscht.


Wladimir erzählte dir von Richelieu.


Er hat die Mauern der Gralsburg abtragen lassen. Er habe alles abtragen lassen, was an Freiheit hätte erinnern können. Sei sicherlich nicht unanstrengend gewesen.


Du liefst auf dem Grundstück hin und her.

Was du denn fotografieren könntest, wolltest du von ihm wissen.

Wladimir hatte auch keinen Rat.


Ich lag im Gras. Über mir ein blauer Himmel, über mir dunkelblau.

Der Himmel über mir - kein Himmel mehr, der Himmel

- ein blauer Raum.

Inkugel.

Innenseite einer Kugel.

Rundbegrenzt, nicht endlos.

Begrenzt. Ein Himmel der Erde.


Die Tränen unaufhaltbar. Würde es darum gehen, die Geheimnisse wieder zu finden, die Wahrheit leben zu dürfen –

ich würde auf alles verzichten. Und wenn ich in einem Bauwagen leben sollte, nur trocken Brot zu essen hätte. Ja, ich würde auf alles verzichten, wenn es darum ging, meine

Wahrheit zu leben. Die Geheimnisse zu hüten, die ich verloren und wieder gefunden hatte.


Du kamst von deiner Suche nach einem Motiv für die Kamera zurück.

Du hättest wenigstens etwas gefunden zum Fotografieren. Eine Grotte mit einem Bild. Eine Sonne, ein Schwert, Blutstropfen.

Und du wärest dankbar, wenn du jetzt zurück in dein Hotel fahren dürftest.

Die Fremde: Text

Ich hätte dir sagen sollen,
dass mein ganzes Leben anders geworden wäre, wenn ich diesen Ort gefunden hätte. Du hättest dich nicht sorgen müssen um mich, ich wäre eine friedliche Tochter gewesen. Weil ich gewusst hätte … wieso ich in diese unbegreifliche Welt geboren wurde …

Die Fremde: Text

Dolmen de Sem

Auf der Rückfahrt warst Du mürrisch.


Wie man auf die Idee kommen könne, an einen solchen Ort zu fahren, wo nichts, rein nichts zu sehen wäre. Bei 34 Grad einen Berg hinaufzusteigen, wo nichts war, als ein paar Steine und Gräser. Das hast du gesagt. Du seist nur froh, dass du deinen amerikanischen Kollegen nicht dabeigehabt hättest. Und gar noch zwei Fotografen. Du hättest dich über die Maßen lächerlich gemacht.


Ich pflichtete dir bei.


Wladimir bog von der Hauptstraße ab. Er wollte dir etwas zeigen.

Am Rande eines Hügels hielt er an. Auf dem Hügel ein Stein so groß, wie ein Felsen. Im Grün der Wiese.


Wie der denn da hinaufgekommen sein könnte?


Waldimirs Antwort war knapp.

Sie haben die Levitation beherrscht.


Levitation? Du hast das Wort wiederholt und nicht mehr nachgefragt.


Wenn man die Kraft der Levitation beherrscht, dann müsste man doch auch die Kraft haben, der Inquisition zu entkommen.

Ist das nicht logisch? Ich fragte ihn.


Ich fürchte, das ist etwas Anderes. Hier geht es um Materie, dort um Monster. Ist das logisch? Er lachte.


Du bist den Hügel hinaufgelaufen und hast den Stein fotografiert, von allen Seiten.


Endlich könntest du etwas den Kollegen mitbringen. Die hätten schließlich auch nie etwas von diesen Katharern gehört.

Die Fremde: Text

Abreise

Als ich an einem Morgen zum Frühstück kam, lag ein Brief auf unserem Tisch.


Antigone, wir mussten abreisen. War nicht geplant.

Eine Familienangelegenheit. Es war ein Geschenk, dir begegnet zu sein.

In Liebe.

Wladimir.


Darunter Zeilen von Lena mit einer Telefonnummer.

Ruf an, wenn du zu uns nach Taran kommen möchtest.

Du würdest es nicht finden. Ich hole dich ab.

Taran liegt versteckt. Niemand findet es. Außer einem, der sich verirrt hat.

Die Fremde: Text

Rom

Wenige Tage später fuhren wir nach Rom zurück.

Auf der Piazza del Popolo bin ich mit rauchendem Porsche stehengeblieben. Da warst du schon ausgestiegen. Motorschaden, eine Reparatur nicht zu bezahlen.


Was schlimmer war: In meinem römischen Leben fand ich mich nicht mehr zurecht. Die Wohnung von Nuccio war eng geworden, was mich nie gestört hatte, seine Unordnung war anstrengend geworden. Ich hatte Liebeskummer, schmerzlich, zehrend. Ich wollte bei ihnen sein.

Die Telefonnummer von Taran lag auf dem Tisch neben meinem Bett.

Als ich die Zahlen drückte, zitterte meine Hand.

Als ich seine Stimme hörte, stotterte ich.

Herzlich war er. Und unbefangen.

Ob ich zu ihnen kommen dürfe. Mehr Worte schaffte ich nicht.


Lena holte mich ab. Taran sei nicht weit von Rom entfernt.

Die Fremde: Text

Lilias Haus

Von der Straße aus – ein Feldweg. Kein Schild.

Ein Feldweg, danach ein Waldweg. Er teilte sich mehrere Male. Gleich nach der vierten Aufteilung verlor ich die Orientierung.

Dann, mitten im Wald, ein Parkplatz. Ein Dutzend Fahrzeuge. Und niemand zu sehen.

Lena stellte den Wagen ab. Wir gingen zu Fuß weiter. Bis zu einer Lichtung. Am Rande der Lichtung ein Haus aus Holz. Kein Haus, ein Häuschen.

Sie öffnete eine niedere Tür, rief einen Namen. Eine Frau kam uns aus dem Flur entgegen.


Die Frau, kleiner als ich, schmal, dichtes graues Haar, im Nacken gebunden. Ebenmäßig das Gesicht, wie aus einem alten Gemälde entstiegen. Sie reichte mir ihre Hand.

Sie hätte schon viel von mir gehört. Ich sei Antigone.

Sie lud mich in ihre Küche ein. Niedere Decke, Holzherd, die Sitzecke klein, wie das Haus selber.


Es klopfte an die Türe, es war Wladimir.

Er drückte mich so fest an sich, dass ich mich kaum rühren konnte. Ich versuchte, ihn von mir wegzuschieben.


Du musst es nicht verstecken, ich weiß doch, wie sehr du ihn magst. Lena lachte.

Er ist ja auch wunderbar, dieser Wladimir. Wenn der einen umarmt, dann wird sogar mir ganz warm. Und – hast du gemerkt, wie er duftet? Er hat mir nie verraten, was für ein Parfum das ist. Er sagt, er hätte keins. Aber das kann doch nicht stimmen. Du musst ganz nah mit der Nase an seinen Hals kommen, dann merkst du es.


Wie unbefangen sie war. Dass ich es je ihm gegenüber werden würde, konnte ich mir nicht vorstellen.


Lilia verteilte Teller, Besteck und Gläser auf dem Tisch, schnitt einen Laib Brot auf.

Auf ein Brett legte sie ein großes Stück Butter, ein großes Stück Käse, holte Wein aus einer Kammer. So saßen wir dichtgedrängt nebeneinander.


Wladimir erzählte von den letzten Stunden in Frankreich, dass sie noch einmal den Montségur besucht hätten, morgens um vier.


Er musste meinen Blick gesehen haben, und dass ich nicht wusste, wovon er sprach.


Er nahm meine Hand, hielt sie fest.


Ich wäre so gerne mit dir dort hinaufgegangen, morgens um vier, wenn noch keine Besucher dort sind, wenn es noch dunkel ist. Und der Kartenverkäufer noch kein Billet verkauft, dann wäre ich so gerne mit dir hinaufgegangen. Und ich hätte dir ein Land gezeigt bei Sonnenaufgang, ein Land so groß und leer.

Ich hätte dich gefragt, ob du eine Erklärung dafür hättest, dass die Mächtigen aus Rom sich bis hierher aufgemacht haben, ein leeres Land zu besetzen, so weit, so klar, so rein.

Und du hättest mir keine Antwort geben können.


Zweihundert Katharer haben sich dort hinauf zurückgezogen, sie sind vor der Inquisition geflüchtet. Ein Jahr lang wurde die Burg belagert. Ein Jahr lang haben sie ausgeharrt. In den ersten Tagen des März 1244 haben sie kapituliert. Sie sind heruntergekommen, einer nach dem anderen, ein langer Zug. Man bot ihnen freies Geleit an, wenn sie bereit wären, ihrem Glauben abzuschwören. Sie taten es nicht. Sind in die brennenden Scheiterhaufen gesprungen.

Gott ist die Liebe. Haben sie gesungen.


Wir schwiegen eine Weile, eine lange Weile.

Dann hob Wladimir sein Glas.

Antigone, es ist wunderbar, dass du hier bist.


Von da an wechselten wir zu leichten Themen. Sie erzählten von ihren Plänen. Sie wollten ein zweites Gartenhaus bauen, das Atelier von Josef renovieren, sie wollten nach Bulgarien reisen, zu den alten Stätten der Bogomilen.

Sie kamen von einem zum anderen, ich war schon ganz müde vor Glück. Lena hatte meine Müdigkeit bemerkt.


Sie reichte mir ihre Hand, zog mich von der Bank hoch. Komm, ich zeige dir Taran, danach darfst du schlafen.
Auf meinem Bett.

Die Fremde: Text

Taran

Lilias Haus hatte einen zweiten Eingang, zur Lichtung hin.

Zum ersten Mal sah ich Taran.

Es ist ein großes, wildes Grundstück, nicht weit vor den Toren Roms.


Außer Lilias Haus gibt es eine Scheune, das ist Josefs Werkstatt. Es gibt ein Gewächshaus (heute sind es zwei). Und es gibt drei Minihäuser, für die anderen Bewohner. Die Gebäude haben einen ähnlichen Abstand zueinander. Gemeinsam bilden sie ein Viereck.


Und in der Mitte des Grundstücks steht ein Pavillon, scheinbar vollkommen unsinnig, winzig, blau-weiß gestrichen. Auf dem Spitzdach eine Kugel.


Lena wollte mir als erstes ihr Häuschen zeigen. Wir überquerten die Lichtung, der Weg führte an dem Pavillon vorbei. Ich blieb stehen, wollte einen Blick durch die Fenster werfen. Sie hielt mich am Ärmel zurück.


Nein! Kein Ort für dich. Da bleiben die Uhren stehen.

Sie lachte und zog mich weiter hinter sich her.
Zu den winzigen Bungalows.


Hier wohne ich.

Neben mir wohnt Waldimir, der dritte ist für Gäste. Sagte sie.


Sie öffnete die erste Tür. Ein winziger Raum. Tisch, Stuhl, Bett, Schrank. Mehr nicht.


Besser ein Winzling in Taran, als ein Schloss irgendwo. Du kannst dich auf mein Bett legen, ich hole dich wieder ab.

Es war keine Zeit vergangen, als ich in einen traumlosen Schlaf fiel. Von dem Klopfen an der Tür bin ich wieder aufgewacht.

Ich hatte das Gefühl, weit weg gewesen zu sein.

Die Fremde: Text

Der Rat der Alten

Am anderen Grundstücksende wollte sie mir die Werkstatt von Josef zeigen. Bevor sie die Tür öffnete, hielt sie den Finger auf die Lippen.


Du darfst nur einen Blick hineinwerfen, mehr nicht.


Ich sah in einen großen Raum, ein Atelier, so, wie man es von Bildhauern kennt. Im Rund saßen alte Männer.


Zu ihnen gehören die Autos, die auf dem Parkplatz im Wald standen. Sie flüstern.


Mit dem Rücken zu mir saß ein Mann, der durch die Farbe seines Anzugs auffiel. Auch schien mir der Abstand zu den anderen Stühlen größer zu sein. Lena zeigte mit dem Finger auf ihn, flüsterte mir in das Ohr.


Josef - das ist Josef.


Der Mann drehte sich um, schaute mich an, lächelte.

Es war das gleiche Gesicht wie das Gesicht des Alten aus meinem entsetzlichen Traum. Damals, nach dem Besuch der Grotte.

Mir wurde schwindelig, ich war froh, dass Lena mich hinausschob. Sie schien meinen Zustand nicht bemerkt zu haben. Sagte, ich möge draußen warten, sie würde noch eine Weile hierbleiben.

Erst war ich froh, noch Zeit zu haben. Mich zu beruhigen. Dann wurde ich ungeduldig. Eine Stunde war schon vergangen.

Die Fremde: Text

Der Pavillon

Es war nicht weit von der Scheune bis zum Pavillon.

Die Sonne brach sich in der Kugel, die blau-weiße Farbe – so einladend.

Ich erinnerte mich an Lenas Worte:

Das sei nichts für mich. Dort würden die Uhren stehenbleiben.


Die Türe ließ sich leicht öffnen. Es war ein winziger leerer Raum mit zwei Stühlen, mehr nicht.

Ich hatte mich gerade auf einen der Stühle gesetzt, als der Boden unter meinen Füßen schwankte.

Der Raum schrumpfte und dehnte sich gleich darauf wieder aus.

Ich hatte keinen Namen mehr und jeden Namen.

Ich hatte kein Alter mehr und jedes Alter.

Es gab keine Zeit, keine Nicht-Zeit.


Ich hätte nicht sagen können, ob ich eine Frau oder ein Mann war.

Eltern gehabt habe oder keine.

Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt?

Nirgendwo war ich mehr, und nirgendwann.

Nichts trieb mehr. Kein Gedanke. Was soll ich wollen, jetzt, da ich nichts mehr will?

Von wo weggehen, wenn ich nirgendwo herkam?

Wohin gehen, wenn ich nirgendwo hinwill?

Was wird mich „Ich“ sagen lassen?

Wer bestimmt das? Wer soll es bestimmen?

Wenn nicht ich, die kein Ich mehr hat.


Als ich aufwachte, saß Lena neben mir auf dem Boden. Du bist ohnmächtig geworden, sagte sie, mehr nicht. Kein Vorwurf.


Wir gingen zu ihrem Häuschen, sie kochte mir einen Tee.

Ich versuchte, mich zu entschuldigen. Sie hätte mich gewarnt, aber dabei gelacht, und darum hätte ich ihre Worte nicht ernst genommen.

Ich fragte sie, was mir in dem Pavillon passiert sein könnte.


Sie drückte meine Hand und schwieg.


Ich fragte sie, was das für Männer gewesen seien, die in dem Schuppen gesessen hätten. Und worüber sie gesprochen hätten.


Wieder drückte sie meine Hand und schwieg.


Ob ich das nicht wissen dürfe, fragte ich sie.


Sie drückte meine Hand und schwieg.


Und jetzt – ruh dich aus.
Später fahre ich dich zurück. Nach Rom. Und das nächste Mal zeige ich dir das Gewächshaus.

Die Fremde: Text

Ich hätte dir sagen sollen

was ich in dem Pavillon erlebt habe. Dass ich keinen Namen mehr hatte, und doch alle Namen, dass ich kein Alter mehr hatte, und doch alle Jahre in mir.


Aber ich sagte dir nichts.


Ich hätte dir erzählen sollen von dem Raum, der sich ausdehnte und wieder zusammenzog, von der Zeit, die plötzlich nicht mehr da war.

Die Fremde: Text

Umbau

Zurück in Rom bekam ich die seltsamsten Beschwerden.

Mal ein schmerzhaftes Stechen in die Stirn, das stundenlang anhielt.

Mal schien die Nase länger zu werden. Erinnerte mich an Pinocchio.

Mal fühlte sich mein Gesicht an, als wäre es in zwei Hälften geteilt. Die eine länger als die andere.

Mal schien sich die obere Seite des Kopfes umzudrehen. Als würde sie eine Schale bilden. Eine Schale.

Dann konnte ich meine Umgebung nur noch zur Hälfte sehen.  Alles von der Hüfte abwärts sah ich nicht mehr.

Ich war sicher, krank zu sein.


Nuccio bestand auf einer Untersuchung in der Universitätsklinik. Verdacht auf Hirntumor. Ein MRT wurde gemacht. Kein Befund, hieß es.


Wieder zu Hause ging es mir von Tag zu Tag schlechter. Vorbei die Sehstörungen, die Stiche in die Stirn, das Gefühl, der Kopf würde mir verdreht, die Nase wachsen.

Die Tage verbrachte ich immer wieder mit Atemnot. Ein heftiger Druck auf das Brustbein.

Als würde mir jemand die Faust auf den Oberkörper drücken. Zuweilen wurde der Druck so stark, dass ich Angst hatte, keine Luft mehr zu bekommen.


In dieser Zeit starb eine junge Frau in unserem Haus. Sie hatte einen Tumor hinter dem Brustbein. Sollte ich jetzt sterben müssen?

Wieder ein MRT gemacht. Wieder kein Befund.


An Schlaf war nicht zu denken. Wenn ich in meinem Bett lag, zitterte ich von Kopf bis Fuß. Schlief ich dennoch kurz ein, wachte ich von einem Ruck wieder auf.

Als würden Körperschichten auseinandergezogen und wieder zusammengedrückt.


Ich war sicher, ein Nervenzusammenbruch stand mir bevor. An dem kann man nicht sterben, das war klar. Aber an einem Tumor, den man eben noch nicht gefunden hatte.

Ja, ich war gewiss, todkrank zu sein.


Nuccio machte sich Sorgen.

Nimm Magnesium, Magnesium hilft. Ich nahm Magnesium ein.

Nimm Johanniskraut, Johanniskraut hilft. Ich nahm Johanniskraut ein.

Und vergiss nicht: Schüsslersalze. Die Einundzwanzig, nimm die Einundzwanzig! Die Einundzwanzig hilft. Ich schluckte die Einundzwanzig.

Basenbäder, mach Basenbäder. Basenbäder helfen.

Ich legte mich mit Basensalz in die Badewanne.

Baldrian, Baldrian hilft. Ich nahm Baldrian.


Das Zittern ließ nicht nach. An Schlaf nicht zu denken.

Was konnte mir helfen? Wer?

Familienaufstellungen? Autogenes Training? Kinesiologie? Heilströmen? Hypnose? Gesprächstherapie?


Du kamst mich besuchen.

Ich bemühte mich, meinen Zustand vor dir zu verbergen. Malte mir die Lippen an und tupfte Rouge auf die Wangen. Du warst begeistert. Endlich täte ich etwas für mein Aussehen!


Ich hätte dir sagen sollen,

dass ich Angst habe, sterben zu müssen, nicht weiß, welche Krankheit ich habe. Ich hätte dir erzählen sollen von dem Stechen in die Stirn, von der Nase, die wachsen wollte.

Dem Gesicht, das sich zu teilen schien,

den Sehstörungen.

Von den Untersuchungen in der Klinik.

Von der Frau, die an einem Tumor hinter dem Brustbein gestorben ist.

Und dass mir das Gleiche bevorsteht. Ich sagte nichts.

Die Fremde: Text

Und ich erzählte

Ich bat Lena, nach Taran kommen zu dürfen. Ich müsse mit ihnen sprechen. Wollte ihnen von meiner Krankheit erzählen.

Sie fragen, ob es etwas mit dem Pavillon zu tun haben könnte.

Ich wollte wissen, worüber der Kreis der alten Männer berät.


Lena holte mich ab.

Auf der Fahrt wollte ich erzählen, sie winkte ab, bat mich damit zu warten, bis alle zusammen sind. Lilia und  Wladimir. Die würden sich freuen!


Freuen? Worüber? Dass es mir schlecht gegangen ist?


Lilia begrüßte mich herzlich. Verteilte Teller, Besteck und Gläser auf dem Tisch, schnitt einen Laib Brot auf,

legte ein großes Stück Butter, ein großes Stück Käse auf ein Brett, holte Wein aus einer Kammer, so saßen wir dichtgedrängt nebeneinander in der Sitzecke.

Lena bat mich zu erzählen, was mir geschehen sei in Rom.


Und ich erzählte.

Von dem Stechen in der Stirn, den schlaflosen Nächten, den Sehstörungen, den Untersuchungen, meiner Angst, sterben zu müssen. Ich erzählte.


Und diese Menschen hörten mir zu. Staunend und freudig.

Nichts schien ihnen fremd.


Ich wollte wissen, ob meine Beschwerden etwas mit dem Sturz im Pavillon zu tun haben könnten.

Und was denn das überhaupt gewesen sein könnte, wieso kann so etwas passieren?


Lena war die erste, die wieder Worte fand.


Die Vorstellungen, die wir von der Wahrheit haben, sind einfältig.

Dahin - das ist kein Weg. Das ist - ein Umbau. Jede Zelle des Körpers verändert sich. Sogar die Muskulatur des Herzens. Da reicht es nicht zu meditieren, Mantren zu singen, magische Übungen zu praktizieren. Das ist kein Spaziergang durch eine edlere Welt, kein Weg von Schönheit zu Schönheit … es ist eine Umwälzung. Alles, was man je gelernt hat, gedacht hat, gefühlt hat, gemeint hat, gewollt hat – gilt nicht mehr. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Und manches Mal meint man, dem Untergang näher zu sein als der Erlösung. Um diesen Umbau zu beginnen, braucht es so etwas, wie … wie … wie … ein starkes Stromkabel.


Der Pavillon, das ist so ein Stromkabel! Ohne ihn wäre Taran ein Ort wie jeder andere. Ein sanfter Platz, an dem die Rechte der Menschen eingehalten und geschützt werden. Zum Glück gibt es davon viele Orte. Was diesen unterscheidet … die Zeit, die aussetzt. Nur wenige können diesen Raum aushalten, ohne die Besinnung zu verlieren. Darum ist es verboten, ihn zu betreten.

Alle Menschen, die hierherkommen, kennen das Verbot. Und sie halten sich daran. Darum schließen wir ihn nicht ab.


Ich wollte weiterfragen. Lilia streichelte nur über meinen Kopf, lächelte mich an.


Es mag der Wein gewesen sein, der ließ mich weiterfragen:


Ob die alten Männer den Pavillon betreten dürften?


Statt zu antworten, erzählte Lilia, dass die Männer einander kannten, bevor sie Josef kennenlernten.


Diese Männer haben früher auf der Straße gekämpft für Werte, Gerechtigkeit, Veränderung, Entmachtung der Mächtigen, für die Verbreitung von Staatsgeheimnissen,

investigativen Journalismus.

Und dann? Dann erkannten sie eines Tages, dass sie keine Chance hatten.

Egal, wie sie kämpfen würden, egal, was sie einsetzen würden, das große Rad, das würden sie nicht stoppen. Sie zogen sich zurück, verließen ihre Partei. Suchten neue Wege.


Wenn du mehr wissen möchtest, dann frag Josef. Wer weiß, vielleicht lädt er dich eines Tages ein.

Die Fremde: Text

Ich gehe dahin, wo du hingehst

Mama, ich hätte dir sagen sollen, dass die Gegenwart dieser Menschen anders ist. Es wunderbar ist, ihnen zu erzählen.  Keiner sonst würde es verstehen.

Wie genau sie zuhören, wie ihre Augen leuchten, wie sie staunen können, und wie sie sich freuen können.


Außerdem hätte ich dir sagen müssen, dass ich mich verliebt habe. Dass ich nicht ahnte, was das sein könnte. Zum ersten Mal dieses: ich gehe dahin, wo du hingehst.

Die Fremde: Text

Brennender Himmel

Es war spät geworden, zu spät, um nach Rom zurückzufahren. Lena begleitete mich zu dem Gästehäuschen.

Du gehörst zu uns, sagte sie, als sie mich an der Tür verabschiedete.


Ich weiß noch, dass ich angezogen eingeschlafen bin.

Und ich weiß noch, dass ich träumte. Ein seltsamer Traum.


Den Ort kannte ich nicht. Es war in den Bergen. Eine Hütte. Früher Morgen. Wir hatten gefrühstückt. Die Frauen, die mit mir waren, kannte ich nicht. Ich stand auf, stellte mich in die Haustür. Hinter mir hörte ich das Klappern von Geschirr und Stimmen. Was sie sagten, verstand ich nicht.

Vor mir herrliches Bergland unter blauem Himmel. Ein paar Schäfchenwolken. Was für ein Morgen. Die Sonne stand noch nicht hoch, Vögel zwitscherten.


Die Schäfchenwolken verfärbten sich, langsam. Aus Weiß wurde Grau. Erst helles Grau, dann zunehmend dunkler. Dunkles Grau. Dunkler, immer dunkler - bis sie schließlich schwarz waren. Schwarze Schäfchenwolken an einem blauen Himmel. Das Klappern in der Küche hatte aufgehört, die Stimmen nicht mehr zu hören. Auch kein Vogel - sie waren stumm. Reglos stand ich in der Tür. Dann verfärbte sich das Blau des Himmels, langsam wurde es dunkler.

So wie am Abend, wenn der Tag zur Neige geht. Aber es war doch Morgen! Reglos stand ich in der Tür. Der Himmel, blauschwarz.


Es war Nacht geworden. Nacht an einem frühen Tag.

Immer noch stand ich im Türrahmen. Starren in Schwarzes.


In der Ferne ein Schaben. Erst leise, dann immer lauter, ein Schaben. Kein Schaben? Massen, die aneinander reiben.

Der Boden bewegte sich. Erst wenig, dann immer heftiger.

Aus dem Haus, Schreie. Durch die Nacht, Schreie.


Ich stand in der Tür. Stumm. Was tun?

In das Schwarz rennen? Stehenbleiben? In das Haus gehen?

Ich beschloss, stehen zu bleiben.


In der Ferne färbte sich der Himmel rot. Ein schmaler Streifen, Feuer. Der Streifen wurde breiter. Der Horizont brannte. Ein gewaltiges Feuer färbte die Nacht rot.


Das Schreien hatte aufgehört. Immer noch stand ich in der Tür. Das Beben unter meinen Füßen ließ nach. Der Brand wurde schmaler, ständig schmaler, dann war das Feuer verschwunden.


Dämmrig wurde es. Ein grauender Morgen.

Ich in der Tür. Vor mir ein anderes Land. Wo Berge waren, war das Land flach. Wo es flach gewesen ist, war es hügelig. Das Gras war so grün, wie ich nie Gras gesehen habe. Auf den

Halmen brach sich das Licht in den Tropfen. Ein Bach floss neben dem Haus. Wasser, so, wie ich nie Wasser gesehen habe. Klares, glänzendes Wasser. In der Luft – ein Duft nach jungen Blüten. Nie habe ich solch einen Duft erlebt. Und nie solche Farben.


Ich ging in die Küche, es war niemand mehr da. Keine Lebenden. Keine Toten.


Es war schon spät, als ich aufwachte. Warum hatte mich niemand geweckt?


Ich klopfte an die Türen der Anderen: Lena und Wladimir waren nicht da. Der Parkplatz war leer, die Werkstatt war leer. Die ersten Strahlen schienen auf die Kugel vom Pavillon.


Ich lief zu Lilias Haus. Sie war so herzlich. 

Lena käme gleich. Sie würde mich nach Rom zurückfahren.


Ich erzählte von dem brennenden Himmel.


Sie lachte und strich mir über die Schulter.

Das ist ja wunderbar. Auf diese Weise lernst du die Geheimnisse kennen.


Aber es war doch nur ein Traum.


Antigone, ja, es war ein Traum. Aber der Traum war die Wahrheit.

Menschen, denen so etwas geschieht, werden in dieser Welt für verrückt erklärt. Behandelt mit Psychopharmaka, für wahnsinnig erklärt, als schizophren bezeichnet, Paranoia, schwere Persönlichkeitsstörung.


Schreib es auf, Antigone, schreib, was du erlebt hast. Es ist gut, wenn du es aufschreibst.

Davon sollten mehr Menschen erfahren.

Jeder, in jeder Sprache.


Es ist Zeit, dass die Menschen merken, was ihnen geschieht. Dass sie misstrauisch werden. Mutig werden. Ihr Leben ernst nehmen.

Es schützen vor den Mächtigen, vor den Engeln, die nicht gut sind, den Toten, die nicht erlöst sind, den Dämonen, die unersättlich sind.


Ich hätte dir erzählen sollen,

von meinem Traum, erzählen sollen,

von den schwarzen Wolken, von dem brennenden Himmel, den Schreien der Menschen, und dass es keine Toten gab - ich hätte dir erzählen sollen von Wiesen, wie ich sie noch nie sah, von einem Grün, das es in dieser Welt nicht gibt.

Von einem Wasser, das anders aussah, als das Wasser, das wir kennen.


Ich hätte erzählen sollen von Lilia, die nie müde wird, zu trösten, zu mahnen.


Aber ich sagte dir nichts.

Die Fremde: Text

Sag es weiter

Rom gehört zu den Städten, die man nicht leid werden kann. Eine Quelle voller Überraschungen, eine Stadt, die nicht müde macht. So bunt, so laut. Herrlich die Bauten. Und doch - ich wollte in Taran sein.

Der einzige Ort, an dem ich bleiben wollte. In Waldimirs Nähe. Lenas, Josefs, Lilias.


Lilia hatte gesagt, ich solle alles aufschreiben, was ich erlebt hatte. Ja, alle sollten etwas von der Wahrheit kennenlernen. Alle!

So würde ich ab jetzt meine Zeit in Rom verbringen.


Was dann geschah, übertraf, was ich mir je hätte ausmalen können.


Meine Vorstellung vom Bösen in der Welt -

Hunger, Folter, Geldwäsche, Krieg, Unrecht,

Bestechung, Vergiftung der Erde, Tierversuche.

Was dann kam, übertraf alles. Es ist schwer, dir darüber zu berichten. Du magst meinen, dass ich Halluzinationen hatte. Aber es war real. Ganz real.

Die Fremde: Text

Die Nächte

Nuccio war zu seinen Eltern gefahren nach Bari. Es war ein guter Tag gewesen.

Es war Abend. Noch nicht spät.

Ich liege in meinem Bett. Entschlossen, ab jetzt alles aufzuschreiben, was ich erlebt habe. Die ersten Seiten hatte ich schon geschrieben.


Dann - von einem auf den anderen Moment - kann ich mich nicht mehr rühren. Eine Masse ohne Körper liegt auf mir. Kann mich nicht bewegen. Kopf nicht, Arme nicht, Hände nicht, Beine nicht, Füße nicht. Die Masse ohne Körper hält mich auf das Bett gedrückt.

Hellwach, kann ich mich nicht wehren.

Der Ohnmacht nahe, mit letzter Kraft – reiße ich den Kopf hoch. Ist es vorbei?


Nichts, was ich je gehört, je gelesen, kommt dem nahe.


Zweite Begegnung.

Sitze im Bett. Traue mich nicht, mich hinzulegen.

Halte die Augen weit auf. Dieses Mal wird es mir nicht passieren!


Dann ist sie da. Blitzschnell. Masse ohne Körper. Da ich nicht liege, kann sie mich nicht herunterdrücken. Sie legt sich um mich. Bleimantelschwer liegt sie um mich. Hält mich fest. Kann mich nicht bewegen, Kopf nicht, Hände nicht, Füße nicht. Angst hatte ich, nur Angst.

Was sagten die Meister?


„Denk positiv. Positiv denken! Denk positiv. Immer nur positiv. Denk Licht. Licht. Denk Liebe. Liebe! Liebe, Liebe, Liebe. Licht und Liebe. Liebe und Licht.“


Das Ding hält mich umfangen. Unerbittlich. Wie lang es gedauert hat - ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Irgendwann ließ der Druck nach. Irgendwann.

Erschöpft sank ich in die Kissen.


Dritte Begegnung.

Bleibe angezogen. Angezogen im Bett.

Mit Mantel und Schuhen im Bett.

Kaffee neben mir. Dann ein lauter Knall.

Der Balken der Zimmerdecke.

Wie ein Schuss so laut.

Der Raum um mich wurde eng, so eng.

Habe Angst, keine Luft mehr zu bekommen.

Das Ding hält mich umklammert.

Eine Nähe ohne Körper.

Nehme Maß. Das Ding und ich.


Wer bist Du? Rede laut.


Sitze in einer Masse ohne Körper in Mantel und Schuhen, aufrecht. Fremde grausige Kraft.


Rede weiter, rede laut.


Wenn du leben willst, dann ist deine Zeit begrenzt.

Du wirst nicht siegen, so nicht. Egal, was du tust.


So sprach ich, laut.


Gegen vier Uhr morgens lässt der Druck nach, der Raum wird frei. Es ist vorbei. Bis morgen! Bis morgen?


Nächste Nacht.

Erschöpft von zu wenig Schlaf sitze ich auf dem Stuhl in Nuccios Zimmer. Fernseher eingeschaltet.


Eine junge Sängerin singt von Verrat und Lust.

Höre dem Text nicht zu.

Warte ab.


Nichts.

Die Fremde: Text

Vierte Begegnung

Dass sich die Leute mit Schlössern und Ketten, mit Alarmanlagen, Überwachungskameras vor Einbrechern schützen wollen ... trotz Angst muss ich lachen. Diese hält kein Schloss ab, keine Mauer und kein Kampfhund.


Nuccio war zurück aus Bari. Ich erzählte ihm von meinen Nächten. Er schaute mich an, als hätte er Sorge um meinen Verstand.

Ob es nicht doch Paranoia sein könnte.

Sein Blick war so fern von mir. Ich gab auf, ihn überzeugen zu wollen. Bat ihn gleichwohl, neben ihm die Nacht verbringen zu dürfen. Wenn er da wäre, dann gäbe es kaum Gefahr für mich …

Am Abend richtete ich mich in seinem Bett ein. Es war seltsam, wir waren uns nie nähergekommen.

Er schien unbefangen, drehte sich der Lampe zu und begann zu lesen.

Ich lag hinter ihm an der Wand und wusste nicht, wie ich liegen könnte, ohne ihn zu stören oder zu nahe zu kommen.

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein.


Ein langer kahler Flur. Zwei männliche Gestalten treten mir entgegen.

Sie haben keine Gesichter.


Einer von ihnen öffnet eine Tür. Bittet mich höflich, einzutreten.


Gekachelter Raum, ein Tisch, keine Stühle. Trotz der Höflichkeit geht eisige Kälte von den beiden aus.


Er öffnet eine Tasche, blättert einen Berg großer Banknoten auf dem Tisch aus.


Für Sie. Als Entschädigung.

Dafür, dass Sie schweigen werden.


Sie kämen gleich wieder, sagten sie und verließen den Raum.

Ich stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt.


Ein Geräusch, hoher greller Ton. In der Wand gegenüber - ein winziger Schraubenkopf dreht sich mit hoher Geschwindigkeit. Der Schraubenkopf dreht sich aus der Wand heraus, wird länger. Immer länger. Er dreht sich direkt auf mich zu.

Herzhöhe.

Starre auf die Wand, den Schraubenkopf, der immer weiter aus der Wand dreht, mir immer näherkommt, kann mich nicht bewegen.

Ohne Frage, er wird mich durchbohren.

Schreie, kreische, schreie. Absolut sicher, dass die Schraube mich durchbohren wird.

Unausweichlich, todsicher, ohne Chance.


Ich werde geschüttelt. Jemand schüttelt mich. Ich höre mich schreien, kann aber nicht aufwachen. Der Hals brennt. Die Stimme nur noch ein Krächzen.


Nach längerer Zeit gelingt es mir, die Augen zu öffnen. Über mir ein entsetztes Gesicht. Nuccio.

Die Fremde: Text

Nichts ist harmlos

Für mich war nichts mehr in der Welt harmlos. Es gab kein Innen und kein Außen. Räume hatten keine Mauern mehr und keine Türen. Häuser, ein offener Bereich. Alles war zu durchqueren.


So wichtig ... wie die Begegnung mit dem Schäfer, das Türchen auf dem Trampelpfad, der Gang durch die Lombrive, der Himmel über der Gralsburg, so wichtig war mein Erlebnis mit den dunklen Welten. Zwei Mysterien gibt es zu unterscheiden. Das Befreiende und das Beherrschende ...

Eine neue Sprache musste entwickelt werden.


In diesen Momenten der Lähmung, in diesen Momenten, in denen ich keinen Finger mehr rühren konnte, in diesen Momenten wurde mir klar,

dass alles Schreckliche, alles Behindernde, alles absolut Unaufhaltbare, Unbegreifliche, Grausame aus jenen Welten stammt, die vollkommen ungekannt sind.

Die regieren werden, solange die Menschen nicht aufgewacht sind und erkennen, dass es auf sie und nur auf sie ankommt, was in dieser Welt geschehen wird.

Die Fremde: Text

Die Therapeutin

Nuccio meldete mich bei einer Freundin an.


Sie ist berühmt, erfolgreich, kurz, die beste Therapeutin, die man finden kann. Studium der Psychologie, Pathologie, Psychiatrie, Neurologie. Du wirst sehen, sie kann dir helfen!


Sie war jung, durchaus zugewandt. Während ich ihr erzählte, notierte sie auf einer Karteikarte. Ich erzählte ihr von meinen letzten Abenden. Interessiert hörte sie mir zu.


Wir müssen Ihr wahres Problem herausfinden. Sie haben einen schweren Konflikt verschleppt. Es könnte sein, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden. Paranoia, Schizophrenie. Das sei zwar nicht weiter schlimm, aber dennoch zu bedenken.


Ich versuchte ihr klar zu machen, dass ich kein psychisches und kein neurologisches Problem habe. Dass ich weder unter Schizophrenie noch unter Paranoia noch unter Wahnvorstellungen leide. Was ich erlebt habe, das hätte nichts mit einem persönlichen Konflikt zu tun.


Sie schaute mich besorgt an. Es war sinnlos, weiter zu sprechen. Ich hatte keine Chance, mich zu verständigen.

Die Fremde: Text

Punta Ala

Die Nächte haben Spuren in meinem Gesicht hinterlassen.

Um mich abzulenken, bat ich dich, mit mir spazieren zu gehen. Dachte, deine leichte Art, deine Unkenntnis über all das, was mich bewegte, täte mir gut.

Du warst erschrocken über meinen Anblick.


Kind, sagtest du, was machst du nur mit deinem Leben?! Kein Beruf, keine Ausbildung. Und immer auf der Suche nach etwas, was nicht zu sehen ist.


Dann hast du mich in deine Arme genommen.


Wir fahren ans Meer. Nach Punta Ala.

Drei Tage. Und lassen es uns gut gehen, ich lade dich ein.


Das hast du gesagt.

Die Fremde: Text

Ich hätte dir erzählen sollen,

von den gespenstischen Nächten, von meinem Plan, alles zu schreiben, was ich erfahren hatte über die Welt hinter den Formen.


Ich hätte dir erzählen sollen von meinen schrecklichen Besuchern, von der Kraft, die sie haben.

Wie sie mich umfangen hielten, eine Masse ohne Körper.


Aber ich sagte nichts.

Die Fremde: Text

September

… die Saison zu Ende, das Hotel groß, fünf Sterne. Wir liefen durch leere Gänge, einen leeren Speisesaal. Ein paar Tische standen noch auf der Veranda, ein paar Strandliegen.

Zwischen Frühstück und Mittag haben wir nebeneinander gelesen, zwischen Mittag und Abend geruht.

Das Abendessen haben wir am Meer eingenommen, Kerzenlicht und das Geräusch der Wellen. Vier Kellner und zwei Gäste.


Einen Nachmittag - die Sonne war nicht mehr warm, wir hatten kurze Kapuzenmäntel angezogen, brachtest du etwas mit an den Strand. Ein Buch.


Ich habe etwas mitgenommen auf die Reise.

Komm, wir setzen uns in den Sand.


Du hast das Buch aufgeschlagen und gelesen.

Mit deiner schönen Stimme, deinem schönen Gesicht, deiner feinen Art.


Ein Meister wanderte zwischen den Hügeln von Schang. Da sah er einen Baum, der war größer als alle andern. Tausend Viergespanne hätten in seinem Schatten Platz finden können.

Der Meister Ki sprach:

"Was für ein Baum ist das! Der hat gewiß ganz besonderes Holz."

Er blickte nach oben, da bemerkte er, daß seine Zweige krumm und knorrig waren, so daß sich keine Balken daraus machen ließen. Er blickte nach unten und bemerkte, daß seine großen Wurzeln nach allen Seiten auseinandergingen, so daß sich keine Särge daraus machen ließen. Leckte man an einem seiner Blätter, so bekam man einen scharfen, beißenden Geschmack in den Mund; roch man daran, so wurde man

von dem starken Geruch drei Tage lang wie betäubt.

Der Meister sprach:

„Das ist wirklich ein Baum, aus dem sich nichts machen läßt.

Dadurch hat er seine Größe erreicht. Oh, das ist der Grund, warum der Mensch des Geistes unbrauchbar für das Leben ist.“


Nach dem letzten Satz haben wir lange geschwiegen, dann hast du mich angeschaut wie nie zuvor. Geduldig, gütig.


Nicht wahr, Antigone, solch ein Baum willst du werden?

Jetzt habe ich dich zum ersten Mal verstanden.

Die Fremde: Text

Pellkartoffeln mit Quark

Das Schreiben hatte ich eingestellt. Ich fühlte mich einsam. Keiner, mit dem ich hätte sprechen können, ohne zu riskieren, für verrückt gehalten zu werden.

Nuccio war mit mir überfordert. Bruno nicht auffindbar.

Ich hatte Sehnsucht nach Taran. Sehnsucht nach Wladimir. Ich war sicher, er würde mich nicht für verrückt halten. Und auch die anderen nicht.


Ich rief Lena an. Ich muss mit euch sprechen. Dringend.


Sie holte mich ab.

Auf der Fahrt wollte ich beginnen, ihr zu erzählen.

Nein! Sie wollte, dass wir erst zusammensitzen. Und dann reden.

Als ich in Taran ankam, wurde ich von Josef und Lilia auf das Herzlichste begrüßt. Wladimir umarmte mich fest.

Sagte, er hätte extra gekocht. Pellkartoffeln mit Quark und Kräutern.

Lilia lud mich ein, Platz zu nehmen. Wenn ich möge, könnte ich ruhig beginnen zu erzählen.

Ich sah in ihre schönen ruhigen Gesichter und zweifelte nicht mehr. Nein, sie würden mich nicht für wahnsinnig halten.


Alles hat begonnen, als ich anfing zu schreiben.

Und dann geschah etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Und nicht für möglich gehalten hatte. Und auch niemandem geglaubt hätte, der mir so etwas erzählt hätte.

Jeden für einen Spinner und Lügner gehalten hätte.


Ich erzählte von den springenden Balken in meinem Zimmer, der Kraft, die auf mich niedersauste, mich auf mein Bett drückte, so, dass ich keinen Finger mehr rühren konnte.

Eine Masse ohne Körper.

Dass ich Angst hatte, schlafen zu gehen, angezogen auf meinem Bett gesessen hätte, mit Stiefeln und Mantel.

Nichts, was ich je gehört, je gelesen, käme dem nahe.


Dass ich versuchte, mit Mantren die Kraft zu vertreiben. Wie sinnlos es war, wie unbeeindruckt sie war.

Dass ich anfing, an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Aber dann doch ganz real zusammengedrückt auf einem Stuhl saß.


Dass ich nur noch lachen konnte bei der Vorstellung, wie sich die Leute mit Kameras, Signalanlagen, Schlössern und Hunden vor Einbrechern zu schützen versuchen.

Diese aber von keiner Mauer sich abhalten ließen.


Ich erzählte von den Gesichtslosen, die mich auszahlen wollten, damit ich den Mund halte, von der Schraube, die sich aus der Wand auf mein Herz zudrehte, wie ich schrie, Nuccio mich rüttelte, und ich nicht aufwachen konnte, obwohl ich mich schreien hörte, wie ich eine Woche nicht mehr sprechen konnte.

Wie Nuccio mich zu einer Therapeutin schickte.

Wie diese Frau keine andere Erklärung hatte, als dass ich krank sein müsse.

Wahnvorstellungen, Schizophrenie und Paranoia vermutete.


Dass das Leben für mich jede Harmlosigkeit verloren hätte. Jede.


Und wie wichtig ich es dennoch fände, dieses erlebt zu haben. So wichtig ... wie die Begegnung mit dem Schäfer, das Türchen auf dem Trampelpfad, den Gang durch die Lombrive, den Himmel über der Gralsburg.


Zwei Mysterien gäbe es zu unterscheiden.

Das Befreiende und das Beherrschende....


Eine neue Sprache müsse entwickelt werden für unser Leben.


Dass ich sicher sei, dass das Schreckliche in dieser Welt nicht aus dieser Welt stammen könne.

Dass das Schreckliche von außerhalb kommen müsse. Aus einer anderen Region.

Und dass es nur enden könnte, wenn die Menschen darüber etwas erfahren würden.


Diese vier Menschen hörten mir zu. Staunend und freudig.

Nichts schienen ihnen fremd.


Nachdem ich geendet hatte, beglückwünschten sie mich. Sagten, es sei wunderbar, dass ich das erfahren durfte.


Wer das nicht erlebt, der weiß nicht, wo wir leben, sagte Lena.

Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit würden die Menschen in dieser Welt einen geistigen Weg vermuten.

Aber es ist ein Kampf. Ein Kampf auf Leben und Tod.

Nur wer beginnt, lernt die Grenzen kennen, lernt die Bosheit kennen. Es ist ein Weg ohne Lob und Anerkennung. Er ist gefährlich und wunderbar. Er fordert einem Menschen allen Mut ab.


Wladimir stand auf, ging im Raum auf und ab.

Was sagte Böhme dazu?


Mir aber ist die Leiter Jakobs gezeiget, darauf bin ich gestiegen bis in Himmel und habe meine Ware empfangen, die ich feil habe. Will mir nun jemand nachsteigen, der sehe auch, daß er nicht trunken sei, sondern er muß umgürtet sein mit dem Schwert des Geistes. Denn er muß durch eine grausame Tiefe steigen, der Schwindel wird ihm oft in Kopf kommen. Dazu muß er mitten durch der Höllen Reich steigen. Was er da für Verhöhnung und Spott müssen leiden, das wird er wohl erfahren.


Lena fiel ein. Und was schrieb die Blavatsky an einen Freund?


Wenn du das Wort Neophyte akzeptierst, wirst du gekocht, mein Junge. Die Versuchungen und Prüfungen werden auf deinen Glauben herunterregnen. Versuchungen, Gefahren und der Kampf gegen alle inkarnierten Dämonen und ganze Heerscharen von Teufeln. Und denke darüber nach, bevor du dich entscheidest.


Lilia fragte, ob die anderen wüssten, was Steiner darüber gesagt habe. Bevor jemand anders antworten konnte, sprach sie weiter.


Derjenige, der in die Einweihung hineinkommt und hellsichtig wird, dem steht nicht die äußere Materie gegenüber.

Die Mächte der Finsternis, die werden Feinde. Das hat er so oder ähnlich geschrieben.


Zum ersten Mal beteiligte sich Josef an dem Gespräch.


Antigone, es ist wunderbar, was dir geschehen ist, es ist ein großes Vorrecht und zeigt, wo wir in Wirklichkeit leben.

Wer versucht, dem Gefängnis dieser Welt zu entkommen, der bekommt Gegner, die er sich nicht hätte träumen lassen.


Danach schwiegen wir alle eine geraume Zeit. Lilia stand auf, holte eine Flasche herrlichen Wein aus der Vorratskammer, verteilte Gläser, schenkte ein.


Auf die Wahrheit!


Danach haben wir nicht mehr über die dunklen Welten gesprochen. Jeder erzählte Geschichten aus seinem Leben. Lustige Geschichten.


Es war wunderbar, in ihrer Mitte sein zu dürfen. Wir haben Wein getrunken, und wir haben gelacht.


Es war schon spät, als wir aufbrachen. Es war eine laue Herbstnacht. Nebeneinander gingen wir zu unseren Schlafplätzen. Der Mond schien auf den Weg, es roch nach Lavendel und nach Pinien.

Lena verabschiedete sich. Wladimir begleitete mich.

Bis vor meine Tür. Er umarmte mich kurz und flüsterte mir etwas zu in Russisch.


Ich wollte wissen, was er gesagt hat.

Er legte den Finger auf die Lippen.


Später, sagte er. Später.

Dann drehte er sich um und ging rasch davon.


Ich lag lange wach in dieser Nacht.

Wünschte, nie wieder nach Rom zurückkehren zu müssen. In Taran bleiben – das einzige Leben, das mir sinnvoll erschien.

Ein Zelt, ein Bauwagen, ein möbliertes Zimmer in der Nähe, alles wäre mir recht. Taran - der einzige Ort, der für mich jemals Zuflucht sein würde.


Und Wladimir? Zum ersten Mal war ich einem Mann begegnet, zu dem ich hätte sagen können, dass ich ihn liebe.

Die Fremde: Text

Die Andere

In dieser kurzen Nacht hatte ich einen wunderbaren Traum.

Ich stand in meinem Zimmer, mit Putzeimer und Gummihandschuhen. Dann war sie da. Sie? Ein Double.

Was soll ich dir erklären, wie dir beschreiben?

Eine, die immer da war. Die Andere von mir. Sie war wie hinter mir. Und doch war niemand hinter mir. Es gab gar kein hinter mir oder vor mir. Ich hatte sie noch nie bemerkt, und doch kannte ich sie besser, als jeden anderen Menschen. Sie schien mir das einzige Wesen, das ich kannte. Niemand war mir vertrauter. Und doch habe ich sie nie bemerkt.

Obwohl sie immer dagewesen war, habe ich sie nie bemerkt.


Als ich aufwachte, war es schon spät.

Lilia begrüßte mich wie jedes Mal über die Maßen herzlich.

Sagte, die anderen seien schon in die Stadt gefahren. Einkaufen. Sie hätte mir Kaffee und warmes Brot aufbewahrt.


Ich erzählte ihr von meinem Traum.

Von der Fremden, die immer da gewesen ist, und die ich nie bemerkt hatte …


Antigone, du bist ein glücklicher Mensch. Du darfst Dinge erfahren, die wenige kennenlernen dürfen. Die Andere, die du erlebt hast in deinem Traum – das ist die Wahrheit.


Dann fragte sie mich, ob ich ihr helfen könne. Sie sei mit den Vorbereitungen weit hinterher.


Vorbereitungen wofür?


Ein Abschiedsfest für Wladimir. Es kommen viele Leute, ihn zu sehen. Er wollte schon lange nach Russland zurückgehen.

Er ist ein großer Kämpfer. Er will im Außen kämpfen. Den Mächtigen seines Landes ins Gewissen reden. Unser Kampf hier ist auch groß. Aber lautlos.

Sein Häuschen wird frei. Wenn ich wolle, könnte ich einziehen. Sie sprach im Plauderton.


Abschied. Das Wort traf wie ein Schlag.


Sie stand mit dem Rücken zu mir, fragte, ob ich mich freuen würde, nach Taran ziehen zu können.


Dann drehte sie sich um, sah mein Gesicht, hielt sich die Hand vor den Mund, setzte sich neben mich, nahm mich fest in die Arme.


Oh, was für ein Esel bin ich …

Wie konnte ich es nur vergessen …

Aber er wird uns besuchen, oft, das weiß ich.


So gut ich konnte, half ich ihr. Die Tränen versuchte ich abzuwischen, bevor sie das Gesicht herunterlaufen konnten.


Warum hatte er mir nichts davon gesagt?


Wir deckten in Josefs Atelier Biertische mit weißen Tüchern zu. Verteilten Teller, Besteck, Gläser, Servietten, Blumen, jeder Handgriff fiel mir schwer.

Nach zwei Stunden war es soweit. Die Gäste konnten kommen. Ich ging in mein winziges Haus, legte mich auf das Bett und weinte ohne Hemmung in die Kissen.

Die Fremde: Text

Ein Schweigen, so laut, wie man es noch nie gehört hat

Es war schon spät als es klopfte. Lena stand an meinem Bett. Entschuldigte sich, sagte, sie hätte sich nicht getraut, mir zu sagen, dass er geht. Bat mich, mit ihr zu kommen.


Mit so verquollenen Augen mich zeigen?


Sie winkte ab. Es wird heute keiner sehen.


Im Zelt zog sie mich an den Tischen vorbei nach vorne, drückte mich auf einen Stuhl.

Auf einem winzigen Podium stand Josef.


Zum Schluss noch dieses … wir haben der Zerstörung unserer Welt nichts entgegenzusetzen als unser Schweigen. Ein Schweigen, wie man es noch nie gehört hat.

Ich bin gewiss, dass wir nicht verlieren werden. Dass es eine Zukunft gibt, die nichts mit Zeit zu tun hat.

Davon bin ich überzeugt. Und dass diese Zukunft in der Finsternis beginnt, in der Angst, in der Not.

Eine Zukunft, in der kein Kind Angst haben muss, kein Tier gequält wird, kein Baum, kein Strauch, keine Blüte, kein Stein, kein Fluss, kein Bach, kein See, kein Meer.

Der Tag wird kommen, an dem die Wahrheit die Lüge verdrängen wird. Und jeder wissen wird, wieso er hier ist.

Wir werden es schaffen, dass die Lüge keinen Zugriff mehr hat.


Heute verabschieden wir, den ich so sehr schätzen gelernt habe. Wladimir.

Ich habe vor vielen Jahren einen wütenden Jungen kennengelernt, einen, der sich mit jedem anlegte, dem dreimal die Nase gebrochen wurde, der aus den Lokalen herausgetragen werden musste.

Jetzt will er wieder kämpfen. Ohne Fäuste. Anders als wir in Taran. Und dazu wünsche ich, wünschen wir ihm die Kraft, so zu handeln, wie er es für richtig hält.

Die Fremde: Text

Abschiede sind wunderbar

Wladimir stand auf. Er war verlegen.


Abschiede seien etwas Wunderbares.

Mit jedem Abschied könne etwas Neues beginnen!

Verlieren werden wir uns nicht mehr.


Er dankte Josef für seine unermüdliche Geduld.


Ohne ihn, ohne Lilia - wäre ich nicht mehr am Leben. Ich hätte mich - totgesoffen.

Du Josef hast aus einem wütenden Irrläufer einen mutigen Kämpfer gemacht. Hier durfte ich lernen. Taran. Auf einer Insel der Zuversicht. Nullraum im Wahnsinn.

Es ist gut, im Verborgenen zu wirken.

Es ist gut, im Außen zu kämpfen.

Ich gehe, um Taran zu schützen. Vor mir.

Die Zeit der Stille ist für mich vorbei.

Ich werde nicht mehr schweigen. Das wird Feindschaft nach sich ziehen. Diese Feindschaft würde Taran treffen.

Ich werde am Gewissen der Mächtigen rütteln.

Nein, ich werde mir dieses Morden nicht mehr anschauen, ohne zu brüllen. Damit niemand mich eines Tages fragen kann: Warum hast du nicht geschrien?

Josefs Kampf ist einer in Stille. Meiner wird laut sein.

Die Fremde: Text

Tochter, Schwester, Mutter

Mich hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. Ich musste das Zelt verlassen, rannte hinaus.


Es gab eine Bank, zwischen dem Pavillon und dem Stadel, ich hatte dort oft gesessen. Dort blieb ich, bis es dunkel wurde.


Verstehst Du?

Zum ersten Mal in diesem Leben bin ich einem begegnet … ich hatte ihn doch gerade erst gefunden.

Wladimir.


Lange habe ich dort gesessen … eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf. Wladimir.


Er setzte sich neben mich.


Es tut mir leid, ich hätte es dir gerne selber gesagt. Ich wollte den geeigneten Augenblick abwarten. Es gab keinen.

Ich wollte es dir schon sagen, als wir in der Bethlehem standen, ich wollte es dir in der Lombrive sagen, ich wollte es dir jeden Moment sagen, vom ersten Augenblick an, in dem ich dich sah, noch bevor wir ein einziges Wort miteinander gesprochen hatten, noch bevor ich wusste, wie deine Stimme klingt.


Es werden Menschen kommen, so wie hier. Es werden nicht die Geduldigen sein, es werden die Wütenden sein. Wir wehren uns. Nicht mit Gewalt, mit Kraft.

Gegen Unrecht und Dummheit. Schläue und Tricks. Lügen und Betrug.


Du darfst entscheiden, wie du mitkommen möchtest. Als meine Frau, als die Mutter unserer Kinder. Oder als meine kleinere Schwester. Oder soll ich dich adoptieren? Und du wirst meine Tochter.


In sieben Tagen reise ich ab. Bis dahin hast du Zeit zu entscheiden.


Mit dem Mann mitgehen, den ich immer gesucht hatte!

Den Ort verlassen, den ich immer gesucht hatte.

Die Fremde: Text

Lassen

Ich erzählte Lilia von Wladimirs Angebot, seiner Einladung, mit ihm nach Russland zu ziehen. Sieben Tage hätte er mir Zeit gegeben. Sieben Tage! Wie sollte ich das entscheiden?


Sie war überrascht.

Er hätte jede Frau neben sich bitten können.

Niemals habe ich gehört, dass er je solch ein Angebot machte.


Alles aufgeben. Mit einem Mann wegziehen, den ich immer gesucht hatte? In die Fremde?

Wer würde er sein?

Oder war es egal, ob ich mitgehen würde oder hierbleiben?

Was zählte? Was war wichtig?

Ja, was war wirklich wichtig.

Ein Leben mit Wladimir. Ein Leben in Taran.


Und wenn ich Josef frage, ob er mir helfen könnte?

Lilia schien Zweifel zu haben.


Das kann man bei ihm nicht wissen. Vielleicht schweigt er nur.


Und wenn ich ihn bitten würde, wie könnte ich ihn bitten?


Du kannst dir nichts vornehmen, wenn du zu Josef gehst. Es wird immer anders sein, als du gedacht hast. Vielleicht redet er kein Wort mit dir.

Niemand, der die Geheimnisse kennt, ist gesprächig.

Die Fremde: Text

Andere Erde

Josef saß an einer Werkbank, polierte den Kopf einer winzigen Bronzefigur. Er gab mir ein Zeichen, näherzutreten. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Wie lange ich da gestanden hatte … Ihm schien nichts wichtiger, als der Kopf einer Figur.


Ob er meine, dass ich mit Wladimir gehen solle. Oder hierbleiben. Ich fragte wirklich vorsichtig. Ängstlich. Statt zu antworten, wandte er sich mit noch größerer Aufmerksamkeit seiner Arbeit zu. Antwortete nichts.


Die Abendsonne schien durch ein Fenster auf die Bronze.

Das Licht bündelte sich im Metall zu einem Punkt.

Der Punkt drehte, dehnte sich, spannte sich auf. Aus dem Punkt wurde Raum. Ein gigantischer Raum, größer als ein Sternenhimmel. Aber es gab keine Sterne.


Es gab Landschaften. Geformt aus Myriaden winziger Pünktchen, funkelnd, glitzernd.

Berge und Täler der Erde.

Landschaften, die jeder kennt. Der Raum war die Erde.

Und kein Unterschied zwischen dem Raum, der Erde und mir.

Der Raum war in mir, und ich war im Raum.

Obwohl ich nie Ähnliches gesehen hatte,

kannte ich alles wieder, war alles vertraut.


Zur gleichen Zeit stand ich in einer Werkstatt. Zur gleichen Zeit befand ich mich in einem gigantischen schwarzen Raum, von Myriaden bunten Punkten durchleuchtet. Zur gleichen Zeit.


Die Übungen aus dem schwarz-roten Heft.

Alles was ich gesehen habe, worüber ich mich gefreut oder geängstigt habe,

alle Bücher, die ich gelesen,

alle Strapazen langer Fahrten,

Gespräche,

Erklärungen,

meine Not, mich entscheiden zu müssen,

mit oder ohne Wladimir zu leben …

geschrumpft in einem Augenblick. - Eine Heimkehr nach Jahrtausenden hoffnungsarmer Straßen.


Ich fühlte mich frei. Frei von allen Bindungen.

Ich brauchte niemanden mehr – nicht einmal mich selber.


Als ich mich umschaute, war alles anders. Das Licht, das durch die Scheiben fiel.

Der Raum, in dem ich stand. Josefs Gesicht. Seine Augen. Wladimirs Angebot. Meine Verwirrung.


Ich lachte, lachte und lachte.


Was für ein Gespinst ist unsere Welt.

Verknüpfungen,

Vorstellungen,

Hoffnungen,

müssen wollen, brauchen müssen, nicht brauchen, doch brauchen – egal.


Ich schaute Josef an. Er lächelte mich an.


In diesem Moment war mir klar, dass auch er frei war. Auch er brauchte niemanden. Niemanden!

Aber die anderen, die brauchten ihn. Er wurde gebraucht. Und darum blieb er.


Ich war nicht allein. Ich war nie allein gewesen. Aber ich musste alleine entscheiden. Ich hatte die Freiheit, mich zu irren, oder nicht.

Die Fremde: Text

Abschied von Wladimir

Als ich die Werkstatt verließ, sah ich ihn von weitem. Ich winkte ihm zu, er kam mir entgegen.

Ich lachte ihn an.


Nie – werde ich dich verlassen. Und nie mit dir gehen. Ich liebe dich. Und bleibe hier. Mit Josef, Lilia, mit Lena.

Es gibt keine Trennung zwischen uns. Egal wo du hingehst, egal, ob ich bleibe.

Ist nicht jede Nähe nur Illusion, jede Ferne ein Phantom?

Seitdem ich dir begegnet bin, durfte ich mehr sehen und erkennen, als wäre ich tausend Jahre auf einer Universität gewesen.


Er hat geweint. Und auch ich weinte.

Die Fremde: Text

Abschied von Rom

Mein Abschied von Rom war leicht. Mein Abschied von Nuccio war schwer, auch von Bruno.
Mein Abschied von dir war schwer ...
Deine Bemühungen, aus mir einen tauglichen Menschen zu machen – gescheitert.

Die Fremde: Text

Mysterien des Alltags

Taran hat mich verändert.

Das Leben ist einfach. Ich habe gelernt. Über dich. Über mich. Über Ordnungen, Leben in Jahreszeiten, Tageszeiten, die vier großen Feste, die Mysterien des Alltags …

Seitdem ich hier bin, haben wir ein zweites Gewächshaus gebaut. Wir haben eine Mediathek eingerichtet. Wir haben ein paar Hühner, Enten, eine Katze, einen jungen Hund. Wir haben einen Brunnen gebaut. Und wir haben einen Feuerplatz.


Alle drei Monate kommen die alten Männer zusammen.

Was sie miteinander sprechen … ich weiß es immer noch nicht. Einmal sagte Lena, es ginge um die Zukunft, mehr sagte sie nicht.

Ich weiß auch nichts über den Pavillon, und wie es möglich ist, einen solchen Ort zu ermöglichen, ich weiß auch wenig über Josef. Das ist nicht wichtig. Es wird der Tag kommen, an dem werde ich es sehen. Und dann braucht mir niemand mehr etwas erklären.


Würde, Fürsorge, Zärtlichkeit, Güte. Hier werden diese Eigenschaften wachgehalten.

Eine Fremde bin ich geblieben. Auch Lena ist eine Fremde geblieben. Lilia ist es geblieben. Wladimir hat es mir geschrieben. Josef hat nichts gesagt.

Dieses Fremdsein konnte auch Taran nicht ändern.

Wir sind nicht zu Hause in dieser Welt.


Die Fremde: Text

Ich möchte um Verzeihung bitten. Aber ich weiß nicht wie ...


… meine Arroganz, meine Ungeduld, mein Hochmut. Wie leid es mir tut. Und dass ich nicht gefragt habe. Nach deinen Hoffnungen, deinen Träumen, deinen Sorgen. Und dass ich dir nicht zugehört habe.


Nichts schien mir wichtiger, als herauszufinden, was es mit dieser Welt auf sich hat. Mit dieser wunderbaren, dieser niederträchtigen, dieser herrlichen, dieser so grausamen Welt. Und was mein Amt darin ist.


Darüber habe ich vergessen, dich zu fragen. Nach deinen Hoffnungen, deinen Sorgen. Mit dir durch die Straßen Roms zu streifen, durch den Park der Villa Borghese zu schlendern, mit dir in einer Trattoria in Trastevere zu sitzen, Spaghetti essen und roten Wein auf dem Tisch. Und ich habe vergessen, mit dir zu lachen.


Du warst und bist der wichtigste Mensch meines Lebens. Meine große, unglückliche Liebe.

Ich hätte es früher wissen sollen. Aber ich wusste es nicht.


Mama! Was ich dir schrieb, ist so wahr, wie das Bett, auf dem ich liege, der Baum vor meinem Fenster, die Blätter, die der Herbst bunt gefärbt hat.


Antigone


Die Fremde: Text

Eine neue Tür

Draußen graute der Morgen, die Augen brannten, der Rücken schmerzte vom langen Sitzen. Müde war ich nicht.


Nichts von dem, was Antigone geschrieben hatte, hatte ich je gehört. Und doch schien es mir, als hätte jemand eine Tür geöffnet, die zuvor nicht zu sehen war.


Warum hatte ich sie nicht kennengelernt?

Warum nie nach ihr gefragt?

Warum nie an den Berichten über sie gezweifelt?

Wie kam der Brief auf den Speicher?

Wieso war er geschlossen?


Wie sollte sie von Elizas Tod erfahren?

Wie verstehen, warum sie nie eine Antwort bekommen würde?


Ich fragte Ismene. Sie wiederholte, was ich schon gehört hatte. Nein, sie war nicht bereit über ihre Schwester nachzudenken.



An diesem Tag beschloss ich, mich auf die Suche zu machen nach Antigone.


Wie, das wusste ich nicht.

Wo, das wusste ich nicht.

Dass es mir gelingen würde, das wusste ich.

Die Fremde: Text

ENDE

Die Fremde: Text
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